Edle Wilde aus der Großstadt

Stammesordnung statt Anarchie: Im Begleitprogramm des „Shrinking Cities“-Projektes untersucht eine Filmreihe Gang-Milieu und Jugendbanden, die nirgendwo so stark werden wie vor der Kulisse des Verfalls und der Verwahrlosung der Städte

VON THOMAS KLEIN

Die Städte sterben, so die Schlüsselthese der Ausstellung „Shrinking Cities“ in den Kunst-Werken, langsam vielleicht, aber sicher. Ganze Viertel verwahrlosen, öde Industriegebiete verwandeln sich in noch ödere Ruinenlandschaften, Wohnkomplexe verlieren erst die Mieter, dann die Scheiben und zuletzt ihre bauliche Sicherheit. Die Ursachen sind unterschiedlich, doch eines ist fast immer gleich: Wo sich kommerzielle Interessen, staatliche Ordnung und „gute Bürger“ zurückziehen, übernehmen Gangs und Banden die aufgegebenen Territorien.

Filmemacher haben sich immer wieder für die kriminellen Energien und Hierarchien der Gang-Kultur interessiert; folgerichtig begleitet eine Filmreihe zum Thema das „ Shrinking Cities“-Projekt. Der Kuratorin Antje Ehmann ging es bei der Filmauswahl offensichtlich um beispielhafte Einzelszenen. Nicht Jugendkultur(en) oder die historische Entwicklung des Bandenwesens stehen im Mittelpunkt des Interesses, sondern eher ein ästhetisches Konzept, das mehr oder weniger organisierte Cliquen vor verwahrloster, entvölkerter Kulisse zeigt. Der Begriff der Gang fällt entsprechend offen aus, die thematische Eingrenzung manchmal etwas vage: Banden tauchen als Überlebensgemeinschaften oder kriminelle Jugendorganisationen auf, die Gang-Zugehörigkeit ist mal Statussymbol, mal eine neuzeitliche Stammesordnung im berüchtigten „rechtsfreien Raum“.

Passgenau ist die Zusammenstellung nicht – sind Entvölkerung und das Schrumpfen der Städte wirklich verantwortlich für das Elend der Straßenkinder Mexikos in Buñuels „Los Olvidados“ (1950) oder nicht eher das ungesteuerte Wachstum? Lässt sich die Einbeziehung von John Carpenters Trash-Perle „Escape from New York“ (1981) allein mit dem eindrucksvollen Bild kannibalistischer Massen, die nachts aus den Gullis in das verwahrloste Hochsicherheitsgefängnis Manhattan strömen, rechtfertigen?

Andererseits gelingt es der Filmreihe, unerwartete Querbezüge herzustellen. Wenn Roberto Rosselini ein Familiendrama im Berlin der Stunde null inszeniert („Germania Anno Zero“, 1947), in dem unbeaufsichtigte Kinderbanden durch die zerstörte Stadt streifen, illustriert das die Auflösung der alten Ordnung, an deren Stelle noch kein überzeugendes soziales oder politisches Konzept getreten ist. Zehn Jahre später drehte Gerhard Klein seine Milieustudie „Berlin – Ecke Schönhauser“ (1957) über die dann gelangweilten, allein gelassenen Jugendlichen in Ostberlin und die Versuchung „republikfeindlicher“ Handlungen. Auch Carlos Saura führt in „ Deprisa, Deprisa!“ (1980) ähnliche Zeichen des gesellschaftlichen wie moralischen Verfalls in Spanien in der Zeit nach Franco vor: So ziel- wie perspektivlos, aber gewaltbereit, zieht da eine Clique Heranwachsender auf Raubzug.

Die reichhaltigste Tradition hat das Genre natürlich in den USA, wo sich die Geschichte und Rituale des Bandenwesens mindestens bis in die Zeit des Wilden Westens zurückverfolgen lassen. Der Blick amerikanischer Filmemacher auf die Gangs fällt dabei oft milde, sozialkritisch bis romantisierend aus. Sicher, die Gewalt in Robert Wise’ „West Side Story“ (1961) ist sinnlos, wirkt letztlich aber kathartisch. Jahrelanges Gerangel zwischen Anglos und Latinos gipfelt zwar in einer Messerstecherei, klärt aber auch über die gesellschaftlichen Verhältnisse auf, in denen beide Gruppen unter ähnlichen Zwängen leiden. Verständigungsversuche, denen oftmals ein eigenwilliger, aufgesetzter Ehrbegriff im Weg steht.

Das Konzept der Gangs als „noble savages“, als edle Wilde des Großstadt-Dschungels, zieht sich durch fast alle US-Produktionen, am eindrucksvollsten wohl in Walter Hills „The Warriors“ (1978). Die kleine Clique der indianisch angehauchten „Warriors“-Gang aus Coney Island muss sich da nach einem Gang-Kongress, bei dem sie irrtümlich des Mordes an einem Gegner beschuldigt werden, von allen Gruppen gejagt durch die Bronx nach Hause durchschlagen. Die Warriors weigern sich, ihr nächtliches Martyrium zu verkürzen: Weder gehen sie zur Polizei, noch fahren sie mit dem Auto oder legen ihre auffälligen Kutten ab. Das macht sie für Hill zu Sympathieträgern. Nicht ihre farbenfrohe Kostümierung unterscheidet die Warriors von ihren schmuddeligen Konkurrenten, sondern ihr Ehrenkodex, auch wenn der im New York der späten Siebziger tödlich sein kann.

Lücken sind immer, auch im „Shrinking Cities“-Programm. Besonders das Fehlen von „Wolfen“ (1981) ist bedauerlich, Michael Wadleighs grandiose Mischung aus Sozialkritik und Horrorfilm: „tribal culture“ in einem weitestgehend menschenleeren New York zwischen Abriss und Luxussanierung. Die Stadt ist schon tot, nur Bestattungsunternehmer und Aasfresser hausen hier noch, Überlebenskünstler und versprengte Idealisten, Polizisten, Indianer, Wölfe und die vermeintlich gut abgeschirmte Oberschicht. Selten ist das verödete Getto so eindrucksvoll als Friedhof der westlichen Zivilisation ausgemacht worden.

Bis 17. Oktober im Zeughauskino/Deutsches Historisches Museum, und im Spätfilmprogramm des Volkspalastes bis Anfang November