Durchhalten als Tugend

Die SPD hat wieder bessere Umfragewerte, die CDU stürzt ab. Wie hat Gerhard Schröder das nur angestellt? Hat er heute eine andere, bessere Politik? Nein. Er hat einfach durchgehalten

VON CHRISTIAN SEMLER

Vor wenigen Wochen noch ließ sich die Regierungsperspektive mit dem schwarz gähnenden Tunnel vergleichen, der am Ende des flackernden sozialdemokratischen Lichts dräut. Jetzt aber erscheint wieder Hoffungslicht am Ende der Finsternis. Die neuesten Umfrageergebnisse sehen die SPD die 30-Prozent-Hürde überklettern, während die CDU unter die 40 Prozent abgestürzt ist. Rot-Grün verbreitet Zuversicht allerorten, die CDU hingegen gerät ins depressive Loch.

Sind etwa Hartz IV die Giftzähne gezogen worden, sind Schonvermögen, Zumutbarkeitsregelungen, zugestandener Wohnraum oder Zuverdienstmöglichkeiten so human geregelt, dass die künftigen Bezieher des Arbeitslosengeldes zwei sich jetzt, im Besitz aller Informationen, beruhigt zurücklehnen können? Nichts davon. Und doch geht es wieder aufwärts mit Schröder.

Ein wichtiges Erklärungselement besteht im Wandel des Bildes, das der öffentlichen Einbildungskraft, dem kollektiv Imaginären, von der Persönlichkeit Schröders vermittelt wird. Bis 2004 galt Schröder als geschickter, mit verschiedenen Optionen jonglierender Taktiker, als jemand, der Verantwortung an alle nur denkbaren Sachverständigengruppen und Runden Tische delegiert, als Vermittler, stets darum bemüht, scharfe Kanten zu vermeiden und sich als Hohepriester des Konsenses darzustellen. Schon 2002, im Vorfeld des Irakkrieges, lernten wir einen anderen Schröder kennen. Und dieses neue Bild von Entschlossenheit trug zur Wende bei der schon verloren geglaubten Bundestagswahl bei.

Hieran anknüpfend entwickelten die SPD und Schröder bei der Durchsetzung von Hartz IV eine Propagandalinie, die sich in dem Satz „Da müssen wir durch“ zusammenfassen lässt. Eine Politik, die entschlossen das sozialdemokratische Gerechtigkeitspostulat hinter sich lässt und die Pfeiler sozialdemokratischer Identität zum Einsturz bringt, umgibt sich mit dem Ethos der Pflicht angesichts des angeblich Notwendigen. Mögen unsere Wahlaussichten auch ins Aschgraue sinken, wir tun das zwar Schmerzhafte – aber einzig Richtige. Das werden uns die Menschen zwar nicht heute, aber zukünftig lohnen.

Müntefering an Schröders Seite steht für diese im sozialdemokratischen Gemüt tief verankerte Pflichtauffassung, während zwar Lafontaine die eigentlich sozialdemokratischen Argumente verficht, sich aber als Luftikus entpuppt hat, der im Zweifel der Neigung Vorzug gibt vor der Pflicht. Jetzt schiebt sich ein neues Bild, das der Standhaftigkeit, vor die Erörterung der tatsächlichen Folgen der Reform. Standfestigkeit im Angesicht des Unglücks ist seit den Tagen der römischen Republik ein Ausweis der Bürgertugend. Schwanken und Mutlosigkeit hingegen wird nicht belohnt werden, wenigstens nicht auf lange Dauer. So hat sich Matthias Platzeck, der sozialdemokratische Ministerpräsident Brandenburgs, bei den letzten Wahlen präsentiert – und hat sie gewonnen. Dass die sozialdemokratische Standhaftigkeit sich auf das schiere Durchhalten reduziert, dass vor allem das Ende der Durststrecke, die wir aus Einsicht in die Notwendigkeit pflichtgemäß durchmessen sollen, keineswegs absehbar ist, fällt gegenüber diesem neuen proklamierten Ethos nicht ins Gewicht.

Bleibt – trotz des Erfolgs in Brandenburg – der harte Brocken Ostdeutschland. Hier beobachten wir eine wirklich raffinierte Diskursverschiebung. Es geht nicht mehr um die schlichte Tatsachenfeststellung, dass ungeachtet aller Opfer der Arbeitslosen keine Arbeitsplätze vorhanden sind. Vielmehr wird als letzter Grund der ostdeutschen Misere ein Gefühl entdeckt, eine Mentalität. Die Ossis fühlen sich als Bürger zweiter Klasse im vereinten Deutschland. An die Front, ihr sozialdemokratischen Ingenieure der Seele! Stärkt das in der Tat und nicht ohne Grund schwache Selbstbewusstsein der Ostdeutschen. Auf dass sie erhobenen Hauptes und als Staatsbürger erster Klasse zu Beziehern des Arbeitslosengeldes zwei werden. Eine schwierige Aufgabe, zugegebenermaßen. Aber hier steht noch die PDS als Identitätsstifter in Reserve.

Dieses neue stolze Bild sozialdemokratischer Standhaftigkeit wäre nicht möglich ohne den Kontrast, vor dem es sich abhebt. Unter Angela Merkel verheddern sich die Christdemokraten bei dem vergeblichen Versuch, die knallhart neoliberale Linie mit Restpostulaten der christlichen Sozialethik zu versöhnen. Was Merkel zusammenbastelt, es wird von Stoiber, dem St. Michael der Christ-Sozialen, eingerissen. Und vor dem Duo Merkel–Westerwelle graut es auch vielen derer, die das Licht am Ende des Tunnels nicht sehen. Nur weiter durchhalten, SPD! 2006 winkt der Lohn der Standhaftigkeit.