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: Nichts vergessen

Was treibt den Mann an? Rachsucht? Profilneurose? Zu den psychologisierenden Vorbehalten gegen Lafontaine kommt spätestens seit seinem Auftritt bei den Montagsdemos ein moralisches Misstrauen: Mit welchem Recht setzt sich ein Wahl-Arbeitsloser an die Spitze eines Demonstrationszugs, dessen Fußvolk von freiwilligem Ausstieg nur träumen kann?

Antworten darauf gibt eine Biografie von Joachim Hoell. Dass der so genannte Populist den Weg nach Leipzig guten Gewissens angetreten haben dürfte, zeigt eine Schlüsselszene: In der Nacht zur deutschen Einheit, vorm illuminierten Reichstag, ist Willy Brandt nach der Nationalhymne zu Tränen gerührt. Es ist Lafontaine, dem er als einzigem der Umstehenden den Handschlag verweigert, denn der hat, statt mitzusingen, den Preis einer Währungsunion zum Kurs von 1:1 vorgerechnet: die Wettbewerbsfähigkeit der ostdeutschen Industrie wird zerstört.

Mit der Warnung, die auch die Betroffenen nicht hören wollten, hat Lafontaine Recht behalten. Es drängt sich der Eindruck auf, dass der „opportunistische Demagoge“ (Helmut Schmidt) genau den Mut und ökonomischen Sachverstand besitzt, den die Gegenspieler heute beim Abbau des Sozialstaats angeblich beweisen.

Nur: Statt 1990 im Osten zu punkten und sich mit einem Sommerurlaub auf Rügen symbolisch zu Ostdeutschland zu bekennen, reist der Kanzlerkandidat nach Mallorca. Denn erstens gibt Peter Maffay in Spanien eine Fete, zweitens ist dort das Essen besser.

Darf man das? Hoell hält es mit einer nüchternen Sicht. Die Symbolik hätte dem Kandidaten moralische Pluspunkte eingebracht und den Ostdeutschen nichts. So egoistisch seine Entscheidung war, sie schadete allenfalls ihm selbst. Passagen wie diese verweisen auf den Schwachpunkt auch gegenwärtiger Lafontaine-Schelte. Seit wann schmälert Hedonismus politisches Format?

Die Verschmelzung von Wohlleben und Solidarität gehört zum Habitus eines Mannes, der schon in Saarbrücken das Nachtleben genoss und tagsüber als Krisenmanager einer maroden Stahlindustrie agierte. Ebenso tief sitzt seine Abneigung gegen den Nationalismus. Zehn Kilometer von der deutsch-französischen Grenze aufgewachsen und mit deutsch-französischem Stammbaum ausgestattet, hat er früh verstanden, dass es eine Wahnidee war, für die sein Vater kurz vor Kriegsende gefallen ist.

Willen und Fähigkeit zum Aufstieg schreibt der Autor Lafontaines Begabung und seinem sozialen Hintergrund zu. Der Sohn einer Sekretärin und eines Bäckers wächst in kleinbürgerlichem Milieu auf, lernt sich durchzuboxen auf der Straße wie in der Schule. Doch fällt ihm das Lernen leicht, sodass er gar nicht erst ausbildet, was ein steiler Aufstieg oft mit sich bringt: das Verleugnen der Herkunft.

Im Gegenteil: Wer die eigenen Leute sind, vergisst er nie. Schon hier fällt der Unterschied zu einem anderen Aufsteiger auf, der sich als Genosse der Bosse etikettieren ließ, ohne zu erröten. Für Lafontaine ist Solidarität ein Leitwert der politischen Sozialisation, keine Folklore. Noch während des Physikstudiums eignet sich Lafontaine zudem eine humanistische Bildung an.

Die weniger feierlichen Seiten werden jedoch ebenso deutlich. Den Hang zur Selbstbeweihräucherung, den etliche Mitstreiter zu spüren bekommen haben. Zu den stammtischnahen Aktionen zählen Beamtenschelte und Stimmungsmache gegen Spätaussiedler. Doch: „Indem er mit gleicher Münze zurückzahlt, akzeptiert er die geltende Währung.“

Neben detaillierten Einblicken in Bedingungen saarländischer Innenpolitik überzeugt vor allem Hoells Grundlinie, über den Selbstinszenierungen einer bekennenden Berühmtheit nicht die Risikobereitschaft zu vergessen. Als Landtagsneuling das gesamte CDU/FDP-Kabinett der Korruption zu bezichtigen, später einem SPD-Kanzler grundfalsche Verteidigungspolitik vorzuhalten, den Gewerkschaften eine Arbeitszeitverkürzung ohne vollen Lohnausgleich vorzuschlagen, dem Neoliberalismus aber hartnäckig die Stirn zu bieten, zeugt von Courage. Der Abgang spricht dagegen? Das kann man nach Lektüre des auch stilistisch glänzenden Buchs nicht finden. MARKUS JOCH

Joachim Hoell: „Oskar Lafontaine. Provokation und Politik. Eine Biografie“. Dirk Lehrach Verlag, Braunschweig 2004. 225 Seiten, 19,80 Euro