Sanfte Revolutionäre im Regen

Beim „Europäischen Sozialforum“ bekommt Che Guevaras Tochter ebenso Applaus wie der Londoner Bürgermeister. Und Tony Blair wird nur am Rande erwähnt

LONDON taz ■ „Wieso, der Regen passt doch zu London“, tönt es auf Deutsch vom Oberdeck des überfüllten roten Doppeldecker-Busses, unten diskutieren französische GewerkschafterInnen, ob rund 2.000 verschiedenen Programmpunkte nicht „complêtement foux“ also eher Unsinn seien, und dann kommt endlich Alexandra Palace in Sicht. Das viktorianische Monstrum in einem Park im Norden Londons ist bis Sonntag Zentrum des Europäischen Sozialforums 2004 (ESF).

Bei der Eröffnung hatte Londons Bürgermeister Ken Livingstone die USA und die vom Dollar dominierte Weltwirtschaft hart ins Visier genommen: London werde 2008 den 50. Jahrestag der kubanischen Revolution feiern, verkündete der linke Labour-Politiker an die Adresse von Präsident Bush. „Zu meinen Lebzeiten“ werde man außerdem das Ende des Dollar erleben, prophezeite er. „China wird immer stärker und bald fragen: Warum sollen wir in Dollar abrechnen?“ Für ihn breche dann „die gefährlichste Zeit der Weltgeschichte an“, weil die Reaktion der westlichen Industriestaaten unberechenbar sei. Aleida Guevara setzte eine bestechend einfache Vision dagegen: „Sozialismus ist immer noch möglich“, so Ches Tochter unter riesigem Applaus, „und Solidarität das Allerwichtigste.“

Am Morgen danach blieben viele Veranstaltungen in Alexandra Palace dagegen schwach besucht: Die Anreise aus der City zog sich hin. Inhaltlich war ohnehin zunächst einmal Selbstvergewisserung angesagt. „Wer von euch war schon in Seattle dabei?“, fragte Louise Richards von „War on Want“ zum Aufwärmen in die Runde, erstaunlich gemäßigt ging das Eröffnungspanel „Für ein demokratisches und soziales Europa“ mit Britanniens Kriegspremier Tony Blair um: Er wurde kaum erwähnt.

Draußen war man weniger zurückhaltend: „Bush und Blair, Lügner und Kriegstreiber“-Plakate hängen an jedem erreichbaren Mast, daneben wird der Socialist Worker angeboten – das trotzkistische Wochenblatt erscheint zum ESF täglich. Die zugehörige Socialist Workers Party (SWP) war an den ersten beiden Tagen ohnehin besser organisiert als der Rest des Forums und provozierte den ersten Polizeieinsatz der Veranstaltung: SWP-Aktivisten stürmten am Donnerstag ein Forum, bei dem eine alternative Währung für das ESF präsentiert werden sollte. Die Polizei räumte zur Sicherheit gleich noch den Platz vor der Conway Hall in Zentral-London von rund 1.500 Menschen. Das waren allerdings ESF-TeilnehmerInnen, die auf Zugang zu den hoffnungslos überfüllten Akkreditierungsbüros im gleichen Gebäude warteten.

Für Bürgermeister Livingstone kaum mehr als eine Lappalie. Schließlich hat er schon den ersten Sympathieerfolg des ESF auf sein Konto buchen können: Als vor einer Woche bekannt wurde, dass noch tausende bezahlbarer Schlafplätze fehlten, gab Livingstone den leer stehenden Millennium Dome für 3,33 Pfund pro Tag als Riesenschlafsaal frei. Dort sei es allerdings schweinekalt, beklagten sich sichtlich unausgeschlafene ESFler am nächsten Morgen. Doch auch das passt schließlich ganz gut zu England im Oktober.

STEFFEN GRIMBERG