Ein Liebeslied mit AK-47

„Das sind normale Menschen – die kontrollieren nur, ob ihre Waffen noch gehen“„Die Männer haben das Land in 13 Jahren in einen Trümmerhaufen verwandelt“

AUS GALCAYO ILONA EVELEENS

Der Friedhof am Stadtrand sieht beinahe fröhlich aus. Der Wind hat bunte Plastiktüten an den scharfen Kieseln festgeweht. Wie blaue, gelbe und rosa Fähnchen zeichnen sie sich grell ab gegen das Beige der Wüstenlandschaft von Galcayo. In den meisten Gräbern liegen Menschen, die 1993 starben, als Galcayo Schauplatz für den Kampf zweier rivalisierender Clans war. Im ganzen Land tobte ein Bürgerkrieg, und es war erst zwei Jahre her, dass Somalia seine Zentralregierung verloren hatte. Es sollte ein Dauerzustand werden.

Galcayo liegt im Nordosten von Somalia. Die Region nennt sich heute „Puntland“ und reklamiert den Status eines unabhängigen Staates. Dessen Präsident, Abdullahi Yusuf Ahmed, wurde erst vor zwei Tagen als Präsident von ganz Somalia vereidigt. Und auch wenn die Zeremonie aus Sicherheitsgründen in der kenianischen Hauptstadt Nairobi stattfinden musste, scheint Yusuf gute Voraussetzungen zu haben, dem Land endlich Frieden zu bringen – „Puntland“ genießt immerhin den Ruf relativer Stabilität.

Zwar sind auch in Galcayo täglich Schüsse zu hören, aber die Bewohner tun das ab: „Das sind normale Menschen, die nur kontrollieren, ob ihre Waffen noch funktionieren.“ Merkwürdigerweise werden die Schüsse trotzdem ab und zu beantwortet – mit Schüssen aus einer anderen Richtung.

Somalia ist zersplittert – jede Stadt, jedes Dorf, jeder Clan, selbst Familien und auch Galcayo. Eine „Grüne Linie“ mitten durch die Stadt hält zwei rivalisierende Clans auseinander. Der gegenseitige Hass und das Misstrauen zwischen Majerteen im Norden und Hawiye im Süden ist so groß, dass in jedem Haus mindestens eine Waffe zu finden ist. „Mit einem Teil der Schüsse zeigen die Nördler und die Südler, dass sie keine Angst voreinander haben und dass sie immer bereit sind, sich zu verteidigen“, erklärt Mohamed Abi. Der ehemalige Polizist leitet das Sicherheitsteam der Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ in Galcayo.

Der Mittfünfziger lächelt oft und zeigt dann seine wenigen Zähne. Seine große Liebe ist die Musik. In seiner Freizeit spielt er gern Gitarre, und ab und an singt er dazu ein Liebeslied für seine Kollegen, während sein AK-47-Gewehr an der Wand lehnt. Auch wenn ein paar Schüsse seine Musik kurz übertönen, singt er einfach weiter. „Ich weiß, was sich abspielt“, behauptet er. „Täglich rede ich mit den Menschen, ich weiß, wo es Spannungen gibt. Ich weiß, wann ich mir Sorgen machen muss – und wann nicht.“

In Somalia herrscht Anarchie, die Gefahr lauert überall. Trotzdem versuchen die Menschen, ein normales Leben zu führen. Auf der unsichtbaren „Grünen Linie“, die quer durch Häuser und über Straßen führt, hängt Wäsche zum Trocknen. Aber es sind nur Frauen und Kinder zu sehen. Männer, die sich ins Grenzgebiet zwischen beide Clans wagen, werden zu lebenden Zielscheiben. Entlang dieser Grenze wohnen vor allem arme Vertriebene, die nach Galcayo kamen, weil es sicherer ist als anderswo in Somalia.

Alisene Abdi beispielsweise. Vor drei Jahren ist sie aus der Hauptstadt Mogadischu geflohen. Sie sitzt auf einem staubigen Teppich in ihrer Einzimmerhütte, die sie aus einer rostigen Autotür, Stofffetzen, Plastik und Kartons gezimmert hat. Als traditionelle Hebamme hilft sie den Frauen des Viertels bei der Entbindung. „Leider sind die meisten so arm wie ich und haben kein Geld, um mich zu bezahlen“, erzählt die 60-Jährige, die sich täglich mühen muss, ihre elf Kinder zu ernähren. „Wenn wir wieder eine Regierung haben und es auch im Süden wieder sicherer ist, will ich so schnell wie möglich wieder zurück.“

Sie gehört zu Somalias Bantu-Bevölkerungsgruppe. „Bantu“ werden in Somalia die Nachkommen von Sklaven genannt, die vor mehr als 200 Jahren aus anderen Teilen Afrikas verschleppt wurden. Die Sklaverei ist abgeschafft, aber Bantus werden noch immer wie drittklassige Bürger behandelt. Arbeit finden sie, wenn überhaupt, meist nur als Knechte, Bauarbeiter oder Putzfrauen. Sie sind vogelfrei, weil sie nicht den Schutz eines somalischen Clans genießen und kein Geld haben, um sich selbst Waffen zu kaufen.

„Wenn es dunkel ist, kommen manchmal bewaffnete Männer aus dem Süden“, erzählt ein junger Bantu im Norden der Stadt. „Sie bedrohen uns, stehlen unsere wenige Sachen, und manchmal nehmen sie auch ein paar Frauen mit, um sie zu vergewaltigen.“ Man könne nichts dagegen machen. Auch eine Klage bei den lokalen Behörden habe keinen Sinn. „Wegen uns zetteln die Behörden keinen Clankrieg an“, erzählt er.

In Galcayo gibt es nur eine Hilfsorganisation: „Ärzte ohne Grenzen“. Seit 1997 ist sie in der Stadt präsent, doch noch immer muss sie behutsam manövrieren. Um ihre Unparteilichkeit zu beweisen, arbeitet die Organisation in zwei Krankenhäusern: in einem im Süden und in einem andern im Norden. Im Spital im Süden bekommt der zehnjährige Khayre Abdulahi gerade einen neuen Verband auf eine tiefe Wunde im Oberschenkel. Leise erzählt er die Geschichte von seiner Verwundung. Wie alles anfing, weil sein kleiner neunjähriger Bruder ihm auf den Fuß getreten hatte, wie er ihn fragte, warum er das macht, wie er ihm einen Schubser gab und sich beide zu boxen begannen. „Dann griff er das Messer meines Vaters und stach auf mich ein“, erzählt der Junge. Auf den anderen beiden Betten im Saal liegen zwei Männer mit Schusswunden.

Trotz aller Scharmützel sind die meisten Somalier kriegsmüde – vor allem die Frauen. Als vor zwei Jahren in Kenia die Verhandlungen zwischen den Warlords zur Bildung einer neuen nationale Regierung begannen, waren sie begeistert. Aber die Hoffnung verflog rasch, weil die Verhandlungen nur quälend vorankommen. Jeder Clan, Subclan, jeder Kriegsherr oder Kriegsherrenassistent will ein Stück der Macht haben. Nun gibt es zwar eine Einigung, aber Hawa Aden, die Direktorin des „Instituts für Frieden und Entwicklung“ in Galcayo, findet, dass einfach zu wenige Frauen an den Gesprächen beteiligt waren. „Es waren doch die Männer, die Somalia in den letzten 13 Jahren in einen Trümmerhaufen verwandelt haben.“

In Hawa Adens Institut lernten in den letzten Jahren tausende Frauen lesen und schreiben. Auch Mädchen gingen hier in die Schule, wenngleich noch immer doppelt so viele Jungen unterrichtet werden. Aber dass überhaupt Frauen lesen und schreiben lernen, sorgte dafür, dass die Schule bedroht und mit Brandbomben beworfen wurde. „Männer benutzen Religion und Tradition, um uns kleinzuhalten. Unterricht ist die Basis, um zu lernen, wie man ein Einkommen erwerben kann. Durch den Krieg müssen ja vor allem die Frauen für das Überleben sorgen“, sagt Hawa Aden.

Trotz allem sind noch immer etwa 80 Prozent der Somalier Analphabeten. Und abgesehen von einigen Kleinbetrieben gibt es kaum Arbeit. Immer häufiger stehen hinter den Marktbuden auch in Galcayo Frauen und verkaufen Nahrungsmittel und Kleider. Männer führen eher Geschäfte mit technischen Geräten und Luxusartikeln. Handel und Gewerbe kommen nur langsam wieder in Schwung. Immerhin liegt die Stadt an einer asphaltierten Straße – einem Überbleibsel der italienischen Kolonialzeit, das ganz Somalia von Nord nach Süd verbindet. Der Weg führt durch verfeindete Clan- und Subclangebiete. Regelmäßig muss Ware von einem Laster auf den anderen verladen werden, weil die Clans verlangen, dass ihre eigenen Wagen und Fahrer eingesetzt werden. Daran lässt sich gut verdienen. Das gilt auch für die mitreisenden Wächter.

Doch scheinbar ist es trotz aller Unsicherheit lukrativ, schon jetzt in Galcayo Geld zu investieren. Omar Abdil Mohamed hat investiert – in einen Laden. Das Geschäft, am Rande einer staubigen Straße, ist voll gestopft mit Baustoffen, Farbe und Glas. Dazwischen hat er ein kleines Büro abgetrennt, in das gerade ein Stuhl und Tisch mit Computer passen. Die Geschäfte gehen gut, weil Galcayo schnell wächst und viele Leute gerade ein Haus bauen oder renovieren – trotz der Unsicherheit.

Zur Zeit des 1991 gestürzten Diktators Siad Barre, des letzten Präsidenten ganz Somalias, zogen viele Menschen aus diesem Landesteil auf der Suche nach Arbeit nach Mogadischu. Wegen des Krieges sind aber inzwischen viele zurückgekehrt, jetzt bauen sie hier und machen Geschäfte. Auch Omar Abdil Mohamed, der Geschäftsmann, ist ein Heimkehrer. Mogadischu war ihm einfach zu gefährlich. „Ich hätte auch nach Kanada ausreisen können“, sagt der chemische Ingenieur, „aber ich entschloss mich, hier zu bleiben.“ Früher war er oft in Europa und den USA. „Ich weiß, dass es dort nicht einfach ist, wie ein guter Muslim zu leben.“ Lächelnd fügt er hinzu: „Und natürlich hätte ich dort nie so ein blühendes Geschäft aufgebaut.“

Der hagere Geschäftsmann hat wie die meisten Familie und Freunde im Krieg verloren. Er hat genug davon. „Die meisten von uns wollen ein ganz normales Leben“, sagt er. „Wir versuchen eine Art Alltag zu schaffen. Und warten darauf, dass wir wieder ein ganz normales Land werden.“