Ganze Kerle, echter Mut

„Im Flussbett nun begann das Morden“: Um die Unbarmherzigkeit des aktuellen Tschetschenienkriegs zu begreifen, muss man die russischen Klassiker lesen. Schon Puschkin und Tolstoi schrieben darüber. Nachrichten aus einem schier endlosen Gemetzel

VON HELMUT HÖGE

„Ich habe keine Ruhe, solange noch ein einziger Tschetschene am Leben ist!“

General A. P. Jermolow

Der Widerstand der Tschetschenen gegen die russischen Eroberungen begann bereits im 16. Jahrhundert. Aber erst der russische Infanteriegeneral Jermolow schreckte – als Oberbefehlshaber der Kaukasusfront – vor keiner Grausamkeit mehr zurück. Zum Symbol seiner Vernichtungsfeldzüge gegen die Tschetschenen wurde 1819 das „Massaker von Dadi-Jurt“, wo die russischen Soldaten und Kosaken sämtliche Männer töteten und 140 junge Mädchen gefangen nahmen, von denen sich dann 46 beim Abtransport mitsamt ihren Bewachern von der Brücke über den Grenzfluss Terek stürzten. Alexander Puschkin nahm in seinem zwei Jahre später in Odessa entstandenen Poem „Der Gefangene im Kaukasus“ darauf Bezug:

„Nun beug dein schneeig Haupt im Nu, / O Kaukasus – Jermolow schreitet! / Besiegt von russischer Gewalt, / Verstummten schon des Krieges Töne. / Es kämpften und verdarben bald / Kaukasiens stolze Heldensöhne; / … / Und nur noch dunkele Legenden / Erzählen, wie das Ende war.“ Sein Poem hatte Puschkin General N. N. Rajewski gewidmet, der sich weigerte, an Jermolows Feldzug gegen die Tschetschenen teilzunehmen: „Ich sehe mich gezwungen, dieses Gebiet zu verlassen. Unser Vorgehen erinnert mich an die Katastrophe der Eroberung Amerikas durch die Spanier“, schrieb er an den Kriegsminister.

Die Tschetschenen gaben sich nach Abschluss der Jermolow-Expeditionen 1827 mitnichten geschlagen: Dem dagestanischen Imam Shamil gelang es 1834, sie erneut zu vereinen und die Russen aus ihren Garnisonen zu vertreiben. 1840 besiegten die tschetschenisch-dagestanischen Kämpfer in der Schlacht am Fluss Walerik die Truppen des Generals Galafejew, 1845 bereiteten sie der Armee des Generals Woronzow eine Niederlage.

Puschkin war 1837 bei einem Duell getötet worden, statt seiner besang wenig später der Dichter Michail Lermontow den Heldenmut der tschetschenischen Freiheitskämpfer. Schon als Elfjähriger hatte er mit seiner Großmutter den Kaukasus bereist. Die Zeilen aus seinem Kindergedicht „Der ruchlose Tschetschene kriecht weiter zum Fluss / Und wetzt sein Messer“ kennt noch heute jeder Russe. Als junger Offizier wurde er dann zweimal an die Kaukasusfront strafversetzt, wo er an mehreren „Aktionen“ teilnahm:

„Gar heiße Kämpfe vor uns standen, / Fern aus Itschkeriens Bergeslanden / Zu den Tschetschenen manche Schar / Verwegnen Volks gestoßen war“, heißt es in seinem Gedicht „Walerik“ (Todesbach) aus dem Jahr 1840, und weiter: „Im Flussbett nun begann das Morden, / Zwei Stunden rissen sich die Horden / Wie Tiere, schweigend, Brust an Brust. / Der Fluss von Leichen war verleget; / Den Durst zu stillen hatt’ ich Lust, / Den brennend heiß in mir erreget / Der Kampf und Hitze – doch die Flut / War warm und rotgefärbt von Blut. / … / ‚Wieviel wohl waren heut’ beim Streiten?‘ / ‚An siebentausend mag es sein.‘ / ‚Und wieviel etwa ward erschlagen?‘ / ‚Zählt selbst, ich weiß es nicht zu sagen.‘ / – ‚Ja, ja!‘ – fiel ein hier irgendwer – / ‚Sie werden dieses Tags gedenken.‘ / Sein Haupt tat der Tschetschene senken / Und blickte listig vor sich her.“

Im selben Jahr wurde in St. Petersburg Lermontows autobiografischer Roman „Ein Held unserer Zeit“ veröffentlicht – während der Autor am linken Flügel der Kaukasusarmee kämpfte, „um den Propheten Shamil zu fangen“, wie er seinem Vetter A. A. Lopuchin schrieb. Im Roman heißt es an einer Stelle: „Ich hoffte, dass es beim Schwirren der Tschetschenzenkugeln keine Langeweile geben würde – umsonst: Nach einem Monat bereits hatte ich mich so sehr an ihr Pfeifen und an die Nähe des Todes gewöhnt, dass ich wahrhaftig weniger Aufmerksamkeit auf sie als auf das Summen der Mücken verwandte und mich nur noch ärger als zuvor langweilte, da ich meine letzte Hoffnung verloren hatte.“ Er geht auf die Jagd und verliebt sich in eine Einheimische – aber auch das langweilt ihn bald.

Endlich beschließt er, seinen Abschied zu nehmen und nach Persien zu reisen. Vorher nimmt er jedoch noch einen Genesungsurlaub im nordkaukasischen Kurort Pjatigorsk. Dort wird er bei einem Duell getötet. Von Lermontow erschien nach seinem Tod noch ein kurzer Prosatext mit dem Titel „Der Kaukasier“. Der Philosoph Michail Ryklin schreibt, dass er zeigt, „wie schon damals die im Kaukasus dienenden russischen Offiziere nach und nach die kaukasischen Sitten zu verstehen begannen, die Sprache erlernten und stolz waren auf ihre Freundschaft mit den berittenen kaukasischen Kriegern, den Dschigiten“.

Im Jahr 1851 kam Leo Tolstoi als „Volontär“ (Halbsoldat) in den Kaukasus. Er wird mit seinem Diener in ein kosakisches Wehrdorf einquartiert. Bereits im Jahr darauf schrieb er seine erste Erzählung „Der Überfall“ über den Tschetschenienkrieg: „Der Feind zieht sich, ohne die Attacke abzuwarten, in den Wald zurück und eröffnet von da aus das Gewehrfeuer. Immer häufiger kommen die Kugeln herübergeflogen.“ Ein Major bemerkt dazu: „Charmant! Der Krieg in einem so schönen Land ist ein wahres Vergnügen.“

Die russischen Truppen stürmen schließlich ein von den Bewohnern verlassenes „rebellisches Dorf: Hier stürzt ein Dach ein, oder es wird mit einer Axt gegen hartes Holz gehämmert und eine Brettertür aufgebrochen; dort geht ein Heuschober in Flammen auf, ein Zaun, eine Hütte brennt. Ein Kosak schleppt sich mit einem Sack Mehl und einem Teppich ab; ein Soldat kommt strahlend mit einer Blechschüssel und irgendwelchen Lumpen aus einer Hütte; ein anderer macht mit ausgebreiteten Armen auf zwei Hühner Jagd.“ Zwei Soldaten nehmen einen alten Mann gefangen, der nicht mehr fliehen konnte und sich versteckt hatte: „Er wurde für den Austausch von Gefangenen gebraucht.“ Tote Tschetschenen werden an ihre Angehörigen verkauft – „ausgelöst“.

Tolstoi schildert einen solchen Fall in seiner 1862 abgeschlossenen Novelle „Die Kosaken“. Ähnlich wie Lermontow war auch er an der Kaukasusfront die meiste Zeit damit beschäftigt, sich zu verlieben und auf die Jagd zu gehen, wobei er sich – à la Turgenjew – mit einem alten Kosaken anfreundete, der fast als einziger Dorfbewohner Tolstoi Gesellschaft leistete: „Der Kosak hasst den ritterlichen Bergbewohner, den Dschigiten, der seinen Bruder getötet hat, instinktiv weniger als den Soldaten, der bei ihm untergebracht ist, um sein Dorf zu verteidigen, der ihm aber seine Hütte mit Tabak voll raucht. Er achtet den Bergbewohner, seinen Feind, er verachtet den Soldaten, der ihm ein Fremder und ein Bedrücker ist.“

In seiner Einsamkeit liest Tolstoi viel, grübelt über eine „Theorie des Glücks“ und „echten Mut“ und schreibt – in der dritten Person: „Er erinnerte sich, wie trefflich er sich in der Gefahr gehalten hatte, dass er nicht schlechter gewesen als die anderen und dass er nun ganz in die Kameradschaft der tapferen Kaukasier aufgenommen sei“ – die er jedoch meist meidet. Dennoch glaubt er, „hier ein neuer Mensch, unter neuen Menschen sich einen neuen guten Namen erwerben“ zu können, und spielt sogar mit dem Gedanken, sich im Dorf ganz festzusetzen – so ist er von den Kosaken, dem schlichten bäuerlichen Leben „in Wahrheit“ und von der Schönheit ihrer stolzen Frauen, die „in sich selbst ruhen“, angetan. Ihr kriegerischer Übermut gilt ihm aber zugleich auch als ein „Unsinn“ und eine „Verirrung“: „Ein Mensch hat den anderen getötet und ist glücklich, zufrieden, als hätte er die schönste Tat in der Welt vollbracht.“

Tolstois Novelle endet mit der Schilderung einer Jagd auf Tschetschenen, an der er sich jedoch nur noch als Zuschauer beteiligt. Anschließend liegen neun „Tschetschenzen mit ihren roten Haaren und geschorenen Schnurrbärten tot und verstümmelt am Boden“, aber auch einige Kosaken leben nicht mehr. Weil das Mädchen, dem er einen Heiratsantrag gemacht hat, in ihrer Trauer um sie zu ihm sagt: „Geh, Verhasster!“, verlässt er das Dorf, um sich bald darauf – als Offizier – am Krimkrieg zu beteiligen. Diese neue russische Front führte dazu, dass die Tschetschenen von den Engländern, Franzosen und Türken mit Waffen unterstützt werden. Da sie sich zuvor aber bereits mehrmals gegen das strenge Regime Shamils erhoben hatten, ist das Imamat bald nicht mehr der neu herangeführten russischen Armee von 240.000 Soldaten gewachsen: 1859 ergibt sich Shamil, 1870 darf er nach Mekka auswandern.

Zu Beginn des Krimkrieges 1853 schrieb Tolstoi noch eine weitere Erzählung über den Tschetschenienkrieg: „Der Holzschlag“. Hier geht es ihm um eine Typologie des russischen Soldaten. Diese sind ausgerückt, um jenseits des Tereks einen Wald zu fällen. Auf dem Rückzug werden sie „wie üblich“ von Dschigiten angegriffen, wobei es auf ihrer Seite Tote und Verwundete gibt.

In der 1905, erst fünf Jahre vor seinem Tod, abgeschlossenen Erzählung „Hadschi Murat“ geht es um den gleichnamigen Na’ib (Stellvertreter) von Shamil, der abtrünnig wird und sich in die Obhut der Russen begibt, um mit ihnen die Truppen des Imam zu bekämpfen. Shamil hält jedoch Hadschi Murats Familie in Geiselhaft und die Russen zögern, ihm Truppenteile zu unterstellen. Mit einer kleinen Gruppe von Getreuen setzt er sich schließlich auch von ihnen ab, wird aber verfolgt und dabei getötet. Ein Kosak trennt seinen Kopf ab und reitet damit „die ganze Frontlinie entlang von Ort zu Ort“, um ihn überall zu zeigen. „Aber ein ganzer Kerl war er trotz alledem“, sagt ein Major, „lass mich mal, ich will ihn küssen.“

Auch die anderen Offiziere loben den mutigen Dschigiten. Nur eine Kosakin, die Gefährtin des Majors, ist wütend und traurig: „Ihr seid allesamt Mörder. Ich kann das nicht ertragen …“, sagt sie und wendet sich ab. „Das gleiche kann jedem widerfahren“, versucht ein Offizier sie zu beschwichtigen, „das ist der Krieg.“ – „Ach was – Krieg“, fährt sie ihn an, „was ist denn das für ein Krieg? Ein Hinmorden ist das, nichts weiter!“