„Erinnern ist immer Lüge“

Malin Schwerdtfegers neuer Roman „Delphi“ ist eine angeschrägte Familiengeschichte, die in Griechenland, Israel und Norddeutschland spielt. Ein Gespräch mit der Autorin über magische Orte, „miterziehungsberechtigte“ Geschwister, das Atlantis-Gefühl der Kindheit und das Scheitern als Konzept

VON JAN BRANDT

taz: In „Delphi“ geht es – ähnlich wie in Ihren ersten beiden Büchern „Leichte Mädchen“ und „Café Saratoga“ – darum, den richtigen Ort im Leben zu finden. Wo fühlen Sie sich zu Hause?

Malin Schwerdtfeger: Ich bin in Bremen geboren und lebe seit über zehn Jahren in Berlin. Ich fühle mich wohl hier, brauche aber die Fremde, um schreiben zu können. Unbekannte Orte muss ich mir erschreiben. Ich habe mir von Leuten, die in Delphi und Athen gelebt haben, erzählen lassen, wie es dort ist, und bin erst später hingefahren, um nachzurecherchieren. Ich wollte nicht über mich schreiben, sondern über eine Archäologenfamilie, über das Scheitern an den großen Dingen.

Was meinen Sie damit?

Es gibt zwei Konzepte in der Literatur. Das Scheitern am Alltag, im Kleinen, und das Scheitern an Visionen, an großen Zielen. In dieser Familie kommt beides zusammen. Der Vater forscht als Archäologe an geschichtsbeladenen Orten, die Mutter sucht bei einer jüdischen Sekte spirituelle Erfüllung. Die Eltern versagen im Privaten, und die Kinder sind auf sich allein gestellt.

In allen Ihren Geschichten haben die Hauptfiguren keine Kindheit. Sie müssen früh Verantwortung übernehmen.

Das stimmt. Ich wollte dieser ewigen Kindheit etwas entgegensetzen. Damit meine ich nicht diese Generation-Golf-Oberflächlichkeit, dies Erinnern an Playmobilfiguren und Wetten-dass-Sendungen, sondern dies Festhalten an der außergewöhnlichen Kindheit, was noch viel gefährlicher ist.

Warum?

Sich mit vielen Leuten auf eine ganz normale Kindheit in der Provinz zu einigen, auf gemeinsame, verbindende Attribute, ist leicht. Viel gefährlicher ist es, das Außergewöhnliche zu überhöhen, sich da reinzusteigern. Wer das macht, wird das sein Leben lang nicht wieder los, weil er es mit niemandem teilen kann. Das ist das Atlantis-Gefühl der Kindheit: Die Kindheit als untergegangene Welt, von der man sich, wenn man älter wird, lossagen muss. Viele, die ich kenne, wollen das aber nicht, sie wollen zurück und suchen ständig nach einer Möglichkeit, die Kindheit so lange wie möglich zu verlängern.

In „Delphi“ heißt es: „Erinnerungen sind wie unscharfe Filme, wie Gehbehinderungen, Konzentrationsschwächen und Sprachfehler.“ Misstrauen Sie der eigenen Wahrnehmung?

Erinnern ist immer Lüge und Manipulation. Nostalgie ist Beschönigen der Geschichte. Das ist nichts Neues. Jede Generation war nostalgisch. Ich will auch nicht gegen die Erinnerungskultur wettern, sondern auf eine dezente Weise diese Retro-Schleife kritisieren: dass das Erzählen aufs Erinnern reduziert wird. Und deshalb habe ich eine Erzählerin geschaffen, die sich über die Regeln des Erinnerns hinwegsetzen kann.

Im Prolog sagt die namenlose Erzählerin zwar von sich: „Ich erinnere mich an nichts.“ Aber auf den nächsten 280 Seiten erinnert sie sich an jede Kleinigkeit. Was ist daran nicht nostalgisch?

Das ist natürlich ein Spiel. Die Erzählerin sagt ja auch: „Alles, was ich erzähle, passiert jetzt, in dem Moment, in dem ich es erzähle.“ Sie hat keinen Namen und ist, als sie von ihrer Familie berichtet, bereits tot.

Klingt kompliziert.

Ist es aber nicht. Ich wollte nicht aus einer unwissenden Kindheitsperspektive erzählen. Schließlich handeln meine Figuren wie Erwachsene, und die älteren Geschwister verstehen sich als „Miterziehungsberechtigte“.

Sprechen Sie da aus Erfahrung?

Nein, ich bin ein Einzelkind, habe nur zwei jüngere Halbschwestern, die bei meinem Vater aufgewachsen sind. Vielleicht haben mich deshalb Geschwisterbeziehungen immer interessiert. Geschwister können sich sehr nah sein, aber die Jüngeren sind der Willkür der Älteren ausgesetzt. Zwischen Geschwistern herrscht Anarchie, weil die nächsthöhere Instanz, die Eltern, oft machtlos sind.

Eine letzte Frage. Delphi, das ist der Ort, an dem in der griechischen Mythologie das Orakel den Menschen die Zukunft voraussagt oder Handlungsanweisungen gibt. Als Delphi-Expertin: Soll man angesichts der derzeitigen Flut von Familiengeschichten Bücher schreiben oder nicht?

Natürlich. Jeder. Sofort. Ich hab mal in Verlagen gearbeitet und dort unaufgefordert eingesandte und zum Teil schauderhafte Manuskripte gelesen. Mich hat die Neugier aber nie losgelassen, und da habe ich Walter Kempowski mit seinem Sammel- und Archivierungswahn verstanden: immer auf der Suche zu sein, nach etwas, das gut ist. Schreiben hat ja auch mit Erinnerung zu tun. Und wenn man nur einen gelungenen Satz hinkriegt, hat sich das Schreiben eines Romans schon gelohnt.