Die Mutter aller Ratten

Die Stadt Hameln veranstaltet für ihre bekannten Seuchenschleudern ein Kunstfestival

Das Grauen hat einen Namen, und der lautet Hameln. Wer mit dem Leben noch nicht völlig abgeschlossen hat, flieht den drögen Ort, so bald es geht. Zurück bleiben mit geschlechtlichem Umbau beschäftigte Jugendliche, wegdämmernde Angestellte und tonnenweise Käsekuchen mampfende Rentner.

Ab und zu rattern ein paar englische Soldaten mit ihren Panzern durch den Wald und torkeln später in ihre Kasernen zurück. Wer sich nach Geschäftsschluss noch auf der Straße blicken lässt, macht sich verdächtig. Ranzig brüten die Hamelner in ihrem Kaff vor sich hin, starren auf die zähflüssig vorbeischiebende Weser und hecken aus lauter Langeweile finstere Pläne aus.

Um wenigstens ein paar japanische Touristen in ihre wurstige Ödnis zu locken, erzählen die Hamelner immer wieder gern – und gern auch ungefragt – die Geschichte vom Rattenfänger. Flöte, Ratten, Kinder, Rhabarber, Rhabarber. Sie können und wollen gar nicht mehr aufhören. Malen weiße Ratten auf das Pflaster der Fußgängerzone. Springen im Rattenfängerkostüm durch die Gassen ihrer tristen Stadt und fiepsen auf einer Querflöte. Führen Ratten-Singspiele auf. Backen Rattenbrötchen und verkaufen Rattenwurst. Kein Geschäft mehr ohne Rattenschmock, kein Restaurant ohne Rattenpizza, kein Grinsen mehr ohne Rattenzahn. Was die Hamelner an den vierbeinigen Pestschleudern so anzieht, bleibt rätselhaft.

Weil aber niemand vom durchgeknallten Treiben der rattenversessenen Hamelner Notiz nimmt und weil kunstbegeisterte Bürger in der Provinz immer auf die gruseligsten Ideen kommen, wollen jetzt „kunstbegeisterte Hamelner Bürger“ mit einem „Ratten-Festival“ die Welt das Fürchten lehren. Da großer Unsinn am besten im Verein erledigt wird, hat sich auch gleich der Ratten-Festival-Hameln e. V. gegründet. Dieser „Ratten-Festival-Hameln e. V.“, heißt es brummdumm auf der Homepage, „ist ein gemeinnütziger Verein, der sich die Förderung von Kunst und Kultur unter dem zentralen Thema ‚Ratte‘ zum Ziel gesetzt hat.“ So weit so folgerichtig, denn ein anderes Sujet als das alles überstrahlende Zentralthema „Ratte“ kommt den Hamelnern beim besten Willen nicht in den Sinn.

Deshalb soll der Hamelner Rattenwahnsinn jetzt in einem letzten Akt der Raserei kulminieren. Geplant ist der absolute Ratten-Overkill: Von Mai bis Oktober 2004 soll Hameln mit über 100 „mannshohen, künstlerisch gestalteten Ratten“ zugepflastert werden. Sponsoren für das Rattenfestival sollen als „Rat-Geber“ Rattenpatenschaften übernehmen, und am 1. Mai soll ein Jubelkorso in der Innenstadt die „Rückkehr der Ratten“ feiern. Die kranke Idee stammt selbstverständlich von einem Arzt: Doktor Franz-Josef Vonnahme, Chefarzt am Weserkrankenhaus, ist der Kopf der Hamelner Ratten-Terrorgruppe, die bereits fleißig „Ratten-Rohlinge“ herstellt und „insbesondere auch Hobby-Künstler“ animiert, den Schrecken „einzeln oder auch als Team“ ins Werk zu setzen. Zum Bepinseln gibt es zwei verschiedene Rattenrohlingarten, die 170 und 130 Zentimeter groß sind. „Die gestalteten Skulpturen sind dazu gedacht, miteinander ins Gespräch zu kommen, indem sie die Betrachter zur Auseinandersetzung mit ihnen anregen“, schreibt der Rattendoktor. Was meint er damit? Wüste Rattenrohlinge, die auf Passanten zustürzen und sie in ein Gespräch verwickeln? Man weiß es nicht. Der gute Doktor, so wird auf der putzigen Website www.rattenfestival.de berichtet, hat die Idee von einer Kunstaktion mit Kühen in Kanada abgekupfert. Seine „Begeisterung beim Anblick von faszinierend gestalteten Kühen in Calgary“ ließ ihm keine Ruhe mehr.

Wozu das Ganze, fragt man sich entsetzt und erfährt, dass die Rattenplage nur die Vorbereitung noch größeren Irrsinns ist. „Durch Publikumsbefragung wird eine Hitliste der gestalteten Ratten erstellt“, droht der Verein. Die ganze Rattenhorde soll anschließend an Touristen verscherbelt werden. Dann kommt der bizarre Höhepunkt, das Ziel der fanatischen Ratten-Qaida, zu der auch Hamels Oberbürgermeister Klaus Arnecke gehört: „Den Erlös wollen die Organisatoren für ein ganz besonderes Projekt einsetzen: Mitten in der Weser soll eine Monumentalskulptur entstehen, eine ‚Ratte im Wasser‘ – ein modernes Wahrzeichen Hamelns“. Fett und nass wird die Mammutratte im trüben Weserwasser hocken, auf die Stadt Hameln mit ihren sonderbaren Bewohnern starren und zu jeder vollen Stunde einen fauligen Rülpser absondern. Das ist die Strafe für Hamelns Rattenobsession. Alle werden sie sehen. Die Mutter aller Ratten. Und es wird feststehen: Das Grauen hat einen Namen, und der lautet Hameln. MATTHIAS THIEME