Frühlingserwachen

Ein Sonntag im April

Plötzlich sind sie da. Hundert, zweihundert Menschen, die auf den steilen, steinernen Stufen im Mauerpark in der Sonne sitzen. Auf Picknickdecken, dicht gedrängt, mit Bierflaschen in der Hand und kleinen Kindern auf dem Schoß. Ein modernes Amphitheater neben Flohmarktgewusel und Sporthalle: Nach unten geht der Blick, auf den mit Kopfsteinpflaster ausgelegten Platz. Ein junger Mann steht dort, die Sonnenbrille lässig in die Haare geschoben.

Er ist mit seinem orangefarbenem Rad gekommen, umgebaut zum Lastenesel. Mit dabei: große Boxen, ein Notebook. Spontane Karaoke im Mauerpark, an einem Sonntag im April. Auf seinem Computer läuft der Text, aus den Boxen der Sound. Eine Gruppe Jugendlicher, vielleicht 14 Jahre alt, die Mädels mit großen Ohrringen, die Jungs in Kapuzen-Shirts, stellt sich gemeinsam hinters Mikro. „Beat it“ von Michael Jackson singen sie etwas dünn hinein. Die Masse auf den steilen, steinernen Stufen lächelt und ruft fröhlich dazwischen.

Ein Mann legt spontan einen Moonwalk hin auf die holprigen Pflastersteine, rückwärts und quer durch Glasscherben, die unter seinen Füßen knirschen. Die Zuschauer jubeln. Eine Frau wickelt ihr Kind mit kornblumenblauen Augen, so groß und hell wie der Himmel; ein großer, plüschiger Hund trägt eine Plastikflasche im Maul. Der Moonwalk-Mann bedankt sich mit einer Geste beim Publikum.

Auf der Wiese nebenan wirbeln Keulen durch die Luft und Hula-Hoop-Reifen um die Hüften. Ein Tenorsaxofonist spielt Swing, der in den Abendhimmel perlt. Ein paar Knospen schimmern zart und grün an den Bäumen. Der Mond steht schon fahl am Himmel. Die Menschen lächeln. Es wird Frühling.

MIRIAM JANKE