„Das Bergnest heißt Berzona!“

Das kleine Dichterdorf liegt einige Kilometer vom Lago Maggiore entfernt in der Tessiner Bergwelt. Den Beinamen hat Berzona durch seine Bewohner erhalten: Alfred Andersch, Max Frisch und Golo Mann lebten hier. Ein Besuch in der Schweizer Aussteigeridylle zwischen grauen Riesen aus Granit

Allgemeine Informationen: www.onsernone.ch, www.myswitzerland.com / Schweiz Tourismus, Tel.: 00800-100 200 30 (kostenfrei). Anreise: Nach Berzona, 780 m, ins Valle Onsernone gelangt man mit dem Postauto von Locarno. Die Stecke Locarno–Berzona– Russo–Comologno–Spruga (Talende) wird sechsmal täglich bedient. Die Fahrt nach Berzona dauert rund 40 Minuten. Essen: Ristorante Onsernone in Loco, Tel.: +41 (0)79 620 44 00; Osteria Al Palazign, +41 (0)91 797 20 68 in Comologno Literatur: Heinrich Bauregger: „Tessin. Die schönsten Tal- und Höhenwanderungen“. Rother Wanderführer, 3. Auflage 2003, 144 Seiten mit 61 Farbabbildungen und 50 Wanderkärtchen im Maßstab 1:50 000, eine Übersichtskarte Beat Hächler (Hrsg.): „Das Klappern der Zoccoli. Literarische Wanderungen im Tessin“, 500 S., 4. Auflage, Rotpunktverlag Zürich, 2004 Wandern auf Max Frischs Spuren im „Holozän“: Berzona–Verscio, eine Gratwanderung auf den Salmone; Gehzeit 6 h; Höhendifferenz: Aufstieg 880 m, Abstieg 1.340 m. Anreise mit dem Postauto, zurück von Verscio mit der Centovallibahn nach Locarno.

VON ARIANE EICHENBERG
UND MICHAEL MAREK

Das Valle Onsernone, sieben Uhr morgens. Der erste Postbus fährt das Tal hinauf. Es ist diesig. Kalt. Der Nebel hängt noch im Berg. Auf der schmalen Hauptstraße drängen sich Pkws und Lastwagen. Wir sind am Schweizer Südrand der Alpen. Hier liegt das langgestreckte Onsernone-Tal. Neun Dörfer wie auf einer Perlenkette. 900 Einwohner. Links und rechts steiles Gebirge. Primeln, Veilchen und Kamelien im Frühjahr, Nelken und Almrausch im Sommer. Dazwischen massive Steinhäuser auf den Maiensässen. Und Himmelsbläue. Am Horizont die grauen Riesen aus Granit und Gneis. In der Mitte des Tales liegt das kleine Dörflein Berzona: „Keine Restaurante, nicht einmal eine Bar. Jeder Gast sagt sofort: diese Luft und dann diese Stille!“ Der Schweizer Schriftsteller Max Frisch hat hier zeitweise gelebt. An der Friedhofsmauer findet sich eine kleine Gedenktafel, die an den Ehrenbürger erinnert.

Manches hat Frisch über das Tal in seinem Tagebuch notiert, über sein Haus am Rand des Ortes und über seine Nachbarn Alfred Andersch und Golo Mann, die hier schrieben. Manches über das Dichterdorf findet sich in seiner Erzählung „Der Mensch erscheint im Holozän“ wieder. Heute wandern Touristen mit dem Buch in der Hand durch Berzona. Auf der Suche nach dem türkisblauen Swimmingpool der Familie Frisch oder dem Passweg ins Nachbartal, wie die Hauptfigur Herr Gaiser.

Wir haben uns mit Marta Regazzoni in ihrem kleinen „negozio“ verabredet, eine Art Lebensmittelllädchen. Auf engstem Raum wurde hier bis vor kurzem alles in wundersamer Weise zusammengehalten, was der Mensch braucht: Milch, Salz, Backpulver, Zwiebeln, Wein und Schneckenkörner. Hier gingen die „großen drei“ ein und aus. Für ein Schwätzchen. Oder wenn ihnen etwas fehlte. Zum Frühstück und zum Wandern. Marta schüttelt den Kopf. Am Verstand der Touristen zweifelnd, die zum Vergnügen über die aus Steinplatten gelegten steilen Alpwege hochsteigen. Um die Einsamkeit und Stille zu genießen. Für die knapp 80-Jährige bedeuteten die Berge zeitlebens Mühe und harte Arbeit. Erst vor wenigen Monaten hat sie ihren kleinen Laden aufgegeben.

Vielleicht ihrer Ursprünglichkeit und Abgeschiedenheit wegen hat diese karge Berglandschaft immer wieder Fremde angelockt. Romanciers und Revolutionäre, Aussteiger und Asylsuchende. Anfang des vorigen Jahrhunderts waren es vor allem Künstler, die das Tal für sich entdeckten – als unberührten Ort. Bereits vor dem Zweiten Weltkrieg suchten Max Ernst und Kurt Tucholsky im Valle Onsernone Zuflucht. Ernst Toller und Elias Canetti waren hier. Dimitri, der weltberühmte Theaterclown, und Mario Botta, der Tessiner Stararchitekt, wohnen heute in Nachbartälern. Eine kleine, deutschsprachige Kolonie von Intellektuellen hat hier gelebt. Selbstbezogen und allein um ihr geistiges Wohl besorgt, erinnern sich manche Einheimische.

Der Taleingang. Die schmale Straße windet sich zum ersten Dorf empor: Auressio. Ab hier besteht das Onsernone-Tal aus zwei scheinbar zusammenstoßenden Bergwänden. Nur die sonnige Seite ist bewohnt. Loco, Hauptort des Tals: Jahrhundertalte Häuser säumen die einzige Straße und die winkligen Gassen. Gleich eingangs die Kirche von Sankt Remigio. Etwas abseits das Heimatmuseum. Ein paar Straßenkehren weiter liegt Berzona, wo Golo Mann, der Wallenstein-Bewunderer und passionierte Wanderer, Ende der Fünfzigerjahre sein Haus kaufte: „Es gibt hier wahrhaft beglückende Tage. Wenn ich dann vor meinem Hause stehe, das Feuer des Kamins sehe und draußen ein glorreicher Sternenhimmel, dann ist es so schön, daß ich es kaum glauben kann.“ Golo Mann arbeitete in Berzona an seinem Wallenstein. Hoch oben auf dem Berg. Über allen anderen. Fern jeden Weltenbrandnachrichten. Thronend. Mit Blick weit in das Tal hinein saß er abseits auf seinem Adlerhorst, dem Mataruk. Die Enge der Steinhäuser, die Gespräche der Nachbarn, das Geschrei der Kinder auf der kleinen Piazza – all das wollte der Schriftsteller und Autor nicht hören. Ein Fremder in einer fremden Welt. „Jeder hat seine eigene Beziehung zu den Einheimischen aufgebaut“, sagt Annette Korolnik-Andersch, Malerin und Tochter des Schriftstellers: „Frisch war anders eingebettet als meine Eltern. Golo hatte eine besondere Stellung. Denn wer Thomas Mann war, das hat man bis nach Berzona hinauf gewußt.“

Alfred und Gisela Andersch hingegen siedelten sich mitten im Dorf an, in einer alten Seifenfabrik, die sie in ein Bauhaus-Gebäude verwandelten. Oder, wie es bis heute hinter vorgehaltener Hand heißt, verschandelten: „Dagegen ist nichts zu machen“, schrieb Andersch, „wir haben uns damit abgefunden, daß wir unter Begriffen wie Ascona, Millionäre und Steuervorteile subsumiert werden.“ Doch: „Die landschaftliche Lage ist völlig einzigartig. Das Bergnest heißt Berzona“, schrieb Andersch. Das Leben mit ihm sei nicht immer einfach gewesen. Der Lärm der Kinder oder auch der Gesang auf der Piazza konnten seinen Zorn erregen, erzählt Marta Regazzoni. Die Anderschs hatten sie in den Siebzigerjahren nach Rom eingeladen. Die einzige Urlaubsreise ihres Lebens.

Einen Namen über ihre Berghänge hinaus machten sich die Einwohner durch ihre Strohhüte. Auch Marta Reggazonis Mutter hat die Bänder noch geflochten. Heute stellt Marta Körbe und Hüte allenfalls für die Touristen her. Doch längst ist das Gelb der reifenden Roggenfelder aus der Landschaft verschwunden. Geblieben sind nur die für das Valle Onsernone so typischen Sonnenbalkone, auf denen einst das Stroh trocknete. Die meisten Einheimischen verdienen ihren Lebensunterhalt außerhalb des Tales. Industrie gibt es keine. Allein die Sägerei und der Granitsteinbruch im Seitental werfen Gewinn ab.

Der Klassiker der Soziologie, Max Weber, formulierte, die Moderne sei kein Fiaker, aus dem man an der nächsten Ecke aussteigen könne. Und deshalb haben die Aussteiger am meisten Erfolg, die ihr kleines Paradies mit der Moderne verknüpfen, mit ihren Ideen oder einfach genügend finanziellen Mitteln. Und möglicherweise ist es auch kein Zufall, dass erfolgreiche Aussteiger männlich zupackend sind. Aussteigergeschichten von den Inseln Kreta, Gomera und aus den Bergen des Tessins.

In den Siebzigerjahren folgten den Schriftstellern die Hippies und Aussteiger. Viele kamen aus Zürich. Manche waren auf der Flucht vor ihrer Drogensucht. Diese „capellonis“, wie die Onsernoneser sie spöttisch nannten, richteten sich in verlassenen Gehöften und verfallenen Almhütten ein. Meist ohne Wasser und Strom. Aber in der Hoffnung, im Tal ihre gesellschaftsfernen Träume verwirklichen zu können: ein Leben in der Natur und ohne Zwänge. „Am Anfang hab ich in einer Jurte gewohnt. Wir waren eine Gemeinschaft und hatten indianische Ideen“, Peter Schäfer, Therapeut für verhaltensauffällige Jugendliche, lebt seit zwanzig Jahren im Valle: „Das war halt damals diese Zeit des Selbstversorgens. Die größte Illusion war vielleicht die, man könne sich von dieser Welt zurückziehen.“ Nur wenige dieser Aussteiger haben es geschafft, ihre Ideale lebenspraktisch umzusetzen. Die meisten sind in die Städte zurückgekehrt. Einige fanden einen Kompromiss zwischen dem abgeschiedenen Leben im Valle und ihrem Platz in der dörflichen Gesellschaft.

300 Kurven auf 28 Kilometern. Die einzige Straße im Valle ist schmal und das Geländer nur ein schwacher Halt für die Augen. Tief unten schimmert von Zeit zu Zeit der Fluss. Smaragdgrün. Unzugänglich und wild. Die Zukunft macht denjenigen, die das Tal lieben, die dorthin für immer aus den großen Städten gezogen sind oder die seit Generationen ihm die Treue halten, große Sorgen: „Es gibt ja leider nicht mehr allzu viele Einheimische mehr in solchen Orten“, hatte bereits Golo Mann über seine Zeit im Valle geäußert.

Wie immer kümmert sich Marta um die Kirche in Berzona. Dreimal täglich läutet sie die Glocken. Tag für Tag, Monat für Monat. Seit Jahrzehnten macht sie das schon. „Wenn ich dann nimmer da bin: fertig“, sagt sie. „Muss eine Mechanische machen.“