Das Paradies liegt selten in Berlin

Lass dich begraben, wo du stirbst, heißt es im Koran. Trotzdem lassen die meisten der Berliner Muslime ihre Verstorbenen in die Heimat überführen

von ANDRÉ PARIS

Oft klingelt das Telefon bei Volkan Coskun mitten in der Nacht. Noch bevor er den Hörer abnimmt, weiß er, dass der Anrufer verstört um Worte ringen wird. Zunächst geht es ums Trösten und darum, den Menschen aufzufangen. Wenn nachts bei Coskun das Telefon klingelt, ist irgendwo in Berlin ein Muslim gestorben. „Allah gebe ihm seinen Segen“, antwortet der 35-Jährige dem Anrufer, meist auf Türkisch. Während der Leichenwagen schon unterwegs ist, versucht er die familiären Umstände zu klären, fragt nach Lebensversicherung oder Anträgen. Dann bittet er die Hinterbliebenen für den nächsten Tag in sein Büro.

Volkan Coskun leitet die „islamische Abteilung“ von Ahorn-Grieneisen, Deutschlands größter Bestattungsgesellschaft. Vor knapp zehn Jahren eröffnete der Sohn türkischer Einwanderer sein Büro in Kreuzberg. Über 1.000 islamische Bestattungen hat er seitdem organisiert, pro Jahr sind es ungefähr 100, Tendenz steigend. Die erste Generation türkischer Einwanderer ist in ein Alter gekommen, in dem sich Sterbefälle häufen.

„Viele Hinterbliebene wären mit dem komplexen Antragswesen in dieser Situation überfordert: Meldestelle, Konsulat, Leichenfreigabe – das ist Papierkrieg“, weiß Coskun. Anders als in einigen islamischen Ländern, in denen Tote in Tüchern beigesetzt werden können, schreiben die meisten Bestattungsgesetze deutscher Bundesländer noch immer die Sargpflicht vor.

Eine Dienstreise in die Türkei zählte vor zehn Jahren zu seinen ersten Geschäftshandlungen. Seitdem importiert er die schlichten „islamischen Särge“ aus Kiefernholz. Sie laufen am Fußende spitz zu und haben einen giebelartigen Deckel, um den Leichnam auf die rechte Körperhälfte zu betten. „Für die typische Schlichtheit islamischer Särge entscheiden sich inzwischen auch viele Christen und Atheisten“, so Coskun.

Viel wichtiger als die Wahl des Sargmodells ist jedoch die Frage nach dem Ort der Bestattung. „Lass dich begraben, wo du stirbst“, heißt es eigentlich im Koran. Doch sich in Deutschland bestatten zu lassen, ist für die meisten der hier lebenden Muslime – in Berlin sind es rund 230.000 – keine Wunschvorstellung. Zumal nicht jeder städtische Friedhof über eine islamische Abteilung verfügt, in der dem Koran gemäß beigesetzt werden kann. Eine Grabstelle auf einem christlichen Friedhof oder unter Atheisten kommt für Muslime normalerweise nicht in Frage. Auch deshalb veranlassen Angehörige bei einem Todesfall die Überführung ins Heimatland. Momentan liegt diese Überführungsquote bei 80 Prozent. „Vor zehn Jahren waren es sogar 95 Prozent“, erinnert sich Coskun.

Nur ein Fünftel der in Berlin lebenden Muslime lassen sich auf dem städtischen Friedhof Gatow bei Spandau beerdigen. Obwohl es dort tatsächlich eine separate muslimische Sektion gibt, mit eigenem Raum für die rituelle Waschung des Leichnams und seine Einhüllung in drei Leichentücher.

Dass der Anteil der in Berlin beigesetzten Muslime dennoch derart niedrig ist, darf auch als Abstimmung mit den Särgen verstanden werden. „Wäre das Staatsbürgerschaftsrecht früher reformiert worden, würden sich mehr Menschen, die seit Jahrzehnten hier leben, heimisch fühlen“, sagt Volkan Coskun, der seit 34 Jahren in Berlin lebt und die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen hat.

Rituelle Reinigung mit Seife und Rosenwasser

Unabhängig davon, ob Muslime einen Angehörigen überführen lassen oder ihn in Deutschland beisetzen, erfolgt die rituelle Reinigung des Leichnams vor Ort. Die Waschung wird idealerweise von Angehörigen gleichen Geschlechts, keinesfalls aber von Nichtmuslimen vorgenommen. Der nackte Tote wird dabei auf einem Waschtisch nach Mekka ausgerichtet und bei bedeckten Geschlechtsteilen dreimal mit Zusätzen von Seife, Kampfer und Rosenwasser gewaschen. Zweck ist es, die verstorbene Person von weltlichen Einflüssen zu reinigen und „Allah zurückzugeben“.

Die sich anschließende öffentliche Bestattung findet unter freiem Himmel statt. Der Sarg wird rechtsseitig nach Mekka ausgerichtet, da auch das Gesicht und die Augen des Verstorbenen dorthin gerichtet sein sollen. Während der Imam auf Kopfhöhe das muslimische Totengebet spricht, steht die Trauergemeinde vor dem Sarg und blickt gleichsam nach Mekka. Es ist eine kurze und schlichte Zeremonie: Keine Blumen, keine Musik, keine Ansprache des Imam über die Biografie des Toten.

Die meisten Trauergäste kommen in Alltagskleidung. Lediglich eine grüne Decke mit aufwändigen Stickereien, die auf dem Giebel des Sargdeckels liegt, lässt auf die Festlichkeit des Vorgangs schließen. Die Trauergemeinde erlässt dem Toten jegliche Schuld. „Allahhu-akbar – Gott ist größer als alles“ ruft der Imam viermal und beendet die Zeremonie.

Es sind meist jüngere Muslime der zweiten und dritten Generation, die im Todesfall nicht in das Herkunftsland ihrer Vorfahren ausgeflogen, sondern in Deutschland beigesetzt werden. Oder Sozialhilfeempfänger, bei denen die Flug- und Überführungskosten nicht übernommen werden. Eine Überführung in die Türkei kostet zwischen 2.000 und 3.000 Euro, einige Exporteure verlangen das Doppelte.

Bevor Volkan Coskun die „Grundregeln der islamischen Bestattung“ aus dem Türkischen ins Deutsche übersetzte und an Behörden verteilte, veranlassten unwissende Sozialämter aus Kostengründen noch Feuerbestattungen. „Eine Todsünde“, sagt der Bestattungsunternehmer.

Mohammed Herzog, Imam der „Gemeinschaft deutschsprachiger Muslime“ in Berlin, führt seit 19 Jahren islamische Bestattungen durch. Den Leichentransport ins Ausland betrachtet er als „unnötige Sünde“, schließlich sei die gesamte Welt von Gott erschaffen. Von seinen Mitgläubigen hört er vor allem einen Grund für ihren Überführungswunsch: In der Türkei garantiere man den Toten die Ruhe durch den Kauf der Grabstelle auf ewig, nicht nur für 20 Jahre wie in Deutschland. „Da haben einige Angst, bei der Auferstehung nicht dabei zu sein, wenn ihr Grab vorher geräumt wurde“, mutmaßt der Imam.

Bestattungsunternehmer Coskun erlebt oft, dass der Ort der Beisetzung von den Angehörigen erstmals in seinem Büro diskutiert wird: „Viele Muslime ignorieren die Frage nach dem Bestattungsort zu Lebzeiten und lassen ihre Hinterbliebenen ratlos zurück.“ Ob er sich in Deutschland oder der Türkei beisetzen lassen wird, will Coskun dennoch nicht verraten: „Das ist Berufsgeheimnis.“