Bücher lesen in einem Zug

Mit der 5. KinderLiteraTour warben Bahn und Bibliotheken in passendem Ambiente für die Abenteuer des Lesens

Heiser pfeift die Sirene der Lok. Vor den Fenstern verhüllt dicker Qualm die Sicht. Ratternd rollt der Zug durch Berlin Richtung Werneuchen. Auf der plüschigen roten Bank gegenüber drücken sich die Blues Brothers mit Sonnenbrillen und Trenchcoats in die Polster. In den spärlich beleuchteten Waggons mit Holztäfelung beginnt eine Stimme zu lesen: von „Kunibert Kopflos“ und seinen Abenteuern in der Geisterbahn.

In einem Geisterzug sitzen auch die gut 300 Kinder und Eltern, die zur 5. KinderLiteraTour gestartet sind: Abfahrt 16.26 vom Bahnhof Lichtenberg, Gleis 21 – nicht nur das erinnert an berühmte und berüchtigte Züge wie Harry Potters Hogwart Express oder den Orient-Express samt Mörder. Vor allem das fauchende schwarze Ungetüm an der Spitze macht mächtig Eindruck auf die Passagiere. Unter dem Motto „Mit Dampf ins Land der Zauberer, Detektive und Ganoven“ rollen die Hexen, Piraten und Vampire von morgen durch die Dämmerung. Unter ihren Kostümen verstecken sie die Neugier auf Bücher, Märchen und erzählte Geschichten.

Während Deutsche Bahn und S-Bahn das Ambiente liefern, beweisen die öffentlichen Bibliotheken den Kindern (und den Eltern), dass Lesen nicht einsam und traurig macht. „Bücher kann man erzählen, man kann Theater danach spielen, sich schminken, malen“, sagt Gisela Rhein, Bibliothekarin und eine der Organisatorinnen der Aktion. „Wir wollen die Kinder mit allen Sinnen zum Lesen verführen.“ Deshalb stoßen die Kinder alle paar Meter auf eine neue Attraktion: Bücherwürmer lesen Gruselgeschichten oder Detektivstorys vor; ein Erzähler gibt Geschichten aus den wilden 20er-Jahren Berlins zum Besten; im nächsten Abteil spielen die Kinder die Geschichte von der „Steinsuppe“ oder hören Musik zu Sherlock Holmes’ Abenteuern.

Zum fünften Mal packten die engagierten Bibliothekarinnen ihre Lieblingsbücher zusammen und gingen auf Bahnfahrt. Am Anfang sei das noch ein „ganz niedrigschwelliges Angebot“ gewesen, erinnert sich Rhein: Die Mitarbeiter saßen einfach in der S-Bahn und lasen aus Büchern vor. Weil die Züge bald extrem überfüllt und nicht mehr betriebssicher waren, zog die S-Bahn die Notbremse. Seitdem fährt die LiteraTour als Sonderzug. In diesem Jahr kam eine besondere Attraktion hinzu: eine riesige Dampflok. Ein Fest für Leseratten und „Pufferküsser“, die sonst nur den Fahrplan lesen.

„Die Kinder sollen natürlich ihren Spaß haben“, sagt Angelika Britz von der Bahn. „Aber sie merken auch, dass Lesen und Bahnfahren sehr gut zusammenpassen.“ Etwa 30 haupt- und ehrenamtliche VorleserInnen und rund 10 Mitarbeiter bei der Bahn, beim „Verein Traditionszug Berlin“ und beim „Verein Dampflokfreunde Berlin“ mussten sich ebenso finden wie T-Mobile als Sponsor, um die Kosten für Trasse, Künstler, Zug und Brennstoff aufzubringen: „Allein das Anheizen der Lok verschlingt schon mal zwei Tonnen Kohle“, sagt Britz. Draußen sieht man, wo das Geld bleibt. Der graue Dampf vermischt sich mit dem Bodennebel zu einer grauen Wand mit hohem Gruselfaktor. „Es stinkt“, sagt der Pirat am Fenster. Und hinten im Abteil erkundigen sich die Kinder ganz aufgeregt, wie genau das Buch heißt, aus dem vorgelesen wurde. Denn die Vorleserin hat – mit Sinn für die Inszenierung – an der spannendsten Stelle aufgehört. BERNHARD PÖTTER

Kontakt: www.s-bahn-berlin.de, www.vöbb.de