Weiterkommen statt Sitzenbleiben

aus München JÖRG SCHALLENBERG

Radikale Konzepte brauchen radikale Sprüche. Wenn es dann noch um einschneidende Veränderungen im angeblich so starren Deutschland geht, borgt man sich gern mal was aus Übersee: „Ich erinnere mich an einen Spruch aus den USA über unsere Reformdebatte“, hat jüngst der Präsident der Berliner Freien Universität, Dieter Lenzen sinniert, „der ging: In Deutschland ist man noch dabei, die Schlafsessel auf der Titanic gerade zu rücken.“ Den Eisberg, der am Horizont bedrohlich aus dem Wasser ragt, bildet für Lenzen der Bevölkerungsrückgang auf der MS Titanic-Deutschland: „In den kommenden 40 Jahren werden die Arbeitskräfte von 40 auf 25 Millionen zurückgehen.“ Um angesichts dessen weder Wirtschaft noch Sozial- und Rentensysteme absaufen zu lassen, braucht es für Lenzen vor allem eines: eine Bildungsreform, radikaler als alles, was bislang in Deutschland angedacht worden ist.

Ein Glück, dass Lenzen die grundlegende Studie zur Reform bereits verfasst hat. In den vergangenen Tagen hat er „Bildung neu denken“ vorgestellt. Die wichtigste Frage lautete: Wie bekommt man trotz des Bevölkerungsrückgangs ausreichend gut bis hoch qualifizierte Arbeitskräfte, um das Land am Laufen zu halten? Greencard und Zuwanderung würden diesen Mangel nicht einmal annähernd beheben können. Wenn aber das, was insgesamt 70 Experten aus Schule, Wissenschaft und Wirtschaft nun an Vorschlägen zusammengetragen haben, auch nur halbwegs umgesetzt wird, gleicht das einer Revolution, die schon im Kindergarten beginnt.

Modell aus der DDR

Dort sollen in Zukunft pädagogisch wesentlich besser als heute qualifizierte Erzieherinnen eng mit den Grundschulen zusammenarbeiten und sicherstellen, dass Kinder je nach ihrem Entwicklungsstand bereits ab vier Jahren mit dem Schulunterricht beginnen können. Schulklassen oder weiter gefasste Lerngruppen würden dann nicht mehr nach dem Alter, sondern nach dem Wissensstand und der Leistungsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler gebildet, viele könnten so bereits mit 16 oder 17 Jahren das Abitur ablegen und mit 22 oder 23 Jahren ihren Uni-Abschluss machen. Allerdings sollen nicht nur die Ausbildung beschleunigt und die Lehrinhalte gestrafft werden, vielmehr wollen die versammelten Experten das Schulsystem grundlegend ändern.

Die Studie „Bildung neu denken“ skizziert ein Modell, bei dem auf eine etwa 6-jährige Primarstufe nur noch zwei weitere Stränge folgen, zum einen das Gymnasium, zum anderen eine Sekundarschule, die Hauptschule und Realschule zusammenfasst. Alle Schulen sollen möglichst als Ganztagsschulen eingerichtet werden. Zwischen diesen Schulformen soll es zudem jederzeit eine höchstmögliche Durchlässigkeit geben, das Prinzip des Sitzenbleibens wird ebenso aufgegeben wie die Bewertung nach einer Notenskala. Neben Ähnlichkeiten mit dem Pisa-Spitzenreiter Finnland erinnern diese Gedanken sehr an das Prinzip der allgemeinen Polytechnischen Oberschule, die 1959 in der DDR eingeführt wurde und die Schüler nach Möglichkeit bis zur 10. Klasse zusammenhalten sollte.

Als Initiator der Studie „Bildung neu denken“ tritt aber überraschenderweise die „Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft“ (vbw) in Erscheinung, die sozialistischen Umtrieben ähnlich unverdächtig ist wie Edmund Stoiber der Propagierung der wilden Ehe. Dem bayerischen Ministerpräsidenten aber werden die Ideen, die seine weißblauen Unternehmer da in die Welt gesetzt haben, übel aufstoßen. In Bayern gilt die frühzeitige Auslese und Verteilung auf die althergebrachten drei Schulstränge als sakrosankt, und wenn man erst einmal auf der Haupt- oder Realschule gelandet ist, kann man von dort kaum noch in eine höhere Schule wechseln. Um Ganztagsschulen windet man sich im Süden der Republik seit Jahren herum, Noten sollen bald wieder ab der 2.Klasse vergeben werden, alljährlich kommt die Diskussion um die Einführung von Kopfnoten auf Fleiß und Betragen erneut auf den Tisch.

Den Präsidenten der vbw, Randolf Rodenstock, scheren die christsozialen Heiligtümer einer konservativen Bildungspolitik wenig. Gegenüber der taz sagte er am Rande eines Bildungskongresses in München, „dass es uns ganz sicher nicht darum ging, irgendeinem Parteiprogramm hinterherzulaufen. Der Auftrag an die beteiligten Experten lautete: über den Tellerrand des Hier und Jetzt hinwegzuschauen und so etwas wie ein Grüne-Wiese-Konzept zu entwickeln. Es ist eine Schwäche unserer Politiker in Deutschland, dass sie es im Gegensatz zu vielen Unternehmern nie gelernt haben, konzeptionell-strategisch in die Zukunft zu denken.“ Das sitzt – vor allem in Rodenstocks Heimat Bayern. Dort legen nur gut 20 Prozents eines Schuljahrgangs das Abitur ab, während es im Bundesdurchschnitt über 27 Prozent sind. Zudem haben es Schülerinnen und Schüler aus sozial schwachen Haushalten hier schwerer, einen hohen Bildungsabschluss zu erreichen.

Dagegen fordert die von der vbw in Auftrag gegebene Studie spezielle Förderprogramme und erhebliche finanzielle Unterstützung von Staat und Wirtschaft, um die soziale Selektion weitgehend auszuschalten und spezielle Förderprogramme etwa für Migrantenkinder und Lernschwache zu entwickeln.

Reflexe von der CSU

Es passt auch nicht besonders gut zusammen, dass die bayerische Landesregierung gerade 10 Prozent aller Mittel für die Hochschulen kürzen will, während die vbw-Studie eine Erhöhung der staatlichen Bildungsausgaben von 4,5 Prozent des Brutto-Inlandsprodukts auf bis zu 6 Prozent fordert – Lenzen schätzt, dass bis 2020 „etwa 160 Milliarden Euro zusätzlich für die Bildung aufgebracht werden müssen“. Trotz des zu erwartenden Widerstandes wirkt vbw-Präsident Randolf Rodenstock entspannt: „Meine Unternehmerkollegen waren zunächst auch etwas erstaunt über unser radikales Konzept. Sie haben eine Schrecksekunde lang nachgedacht. Weil sie aber die Analyse der Bildungsversäumnisse teilen, waren sie dann vollauf begeistert von den Vorschlägen. Bei den Menschen aus den Ministeriem und der Politik geht es genauso – nur dauert die Schrecksekunde etwas länger.“ Da liegt er richtig. Die bayerische Kultusministerin Monika Hohlmeier (CSU) hat nach dem ersten Schock reflexartig verlauten lassen, dass es „eine Zusammenlegung von Haupt- und Realschule bei uns nicht geben wird“. Die Diskussion hat gerade erst begonnen.