Die kleine Rote

1975 in Frankfurt am Main geboren. Von 1996 bis 2003 Studium der Theater-, Film-, und Medienwissenschaft an der Goethe-Uni in Frankfurt. 2003: Stipendium von DasArts, der Amsterdam School of Performing Arts, und Gründung von andcompany & co. mit Alexander Karschnia. Erste Regiearbeit zu Peter Weiss’ „Die Ermittlung“ mit Studierenden im IG-Farben-Haus in Frankfurt. 2006: Uraufführung von „little red“ (play): ‚herstory‘“ . Danach Einladung zum KunstenFESTIVAL des Arts in Brüssel und Aufführungen in ganz Europa, unter anderem 2008 bei den Wiener Festwochen. Uraufführung von „Time Republic“ beim Steirischen Herbst in Graz. Umzug von Amsterdam nach Berlin. 2009: Uraufführung von Mausoleum buffo“ im HAU

AUS BERLIN KATHRIN SCHRADER

Die Reisen nach Spanien mit den Eltern gingen in Ordnung, aber das Beste waren die Sommerferien in den Pionierlagern der DDR. Nicola hatte von ihren Eltern gelernt, dass die DDR das bessere, das gerechtere Deutschland sei. Ihre Eltern waren Mitglieder der Deutschen Kommunistischen Partei. Die Familie lebte in Frankfurt am Main.

Nicola Nord liebte die DDR. Sie fand Thälmann-Orden schöner als Mickymaus-Button. Die sozialistische Vita-Cola schmeckte ihr besser als Coke. Klar hat es einige Kinder im Ferienlager gegeben, die sie wegen ihres rosa Minniemaus-Anzugs eine Angeberin schimpften, erzählt Nord, doch sie habe nie auch nur den geringsten kulturellen Unterschied zwischen sich und den DDR-Kindern verspürt. Das mag daran liegen, dass die Westkommunisten ihre Kinder nach DDR-Erziehungsleitbildern erzogen, also nicht so liberal wie 68er-Eltern. Erstaunlich ist es dennoch, denn Nord wuchs in einer freieren Gesellschaft auf. Zu Hause gingen Kommunisten aus allen Ländern ein und aus, eine Zeit lang lebten chilenische Familien in dem Haus, das sie sich, ähnlich wie eine Kommune, mit den Familien anderer Genossen teilten. Aber nur in den Ferienlagern der DDR war sie ohne Ausnahme unter Gleichgesinnten. Dort waren keine Kinder, die von den Eltern angehalten wurden, nicht mit der kleinen Roten aus der Nachbarschaft zu spielen.

Nicola Nord ist 33 Jahre alt, auffallend hübsch und immer mittendrin. Inzwischen kommen die DDR-Anekdoten aus ihrer Kindheit gut an. Sie sorgen auf jeder Party für fröhliche Gesichter. Einige beneiden sie sogar um den Exotenbonus – besonders bei jener Geschichte, wie sie Erich Honecker einmal ein goldenes Feuerzeug überreichen durfte. In jenem Sommer war sie zur Bundespionierin ernannt worden. Von allen Kindern war sie es, die das meiste Geld für Schulen in Nicaragua gespendet hatte, denn ihre bunt bemalten Vita-Cola-Kronkorken waren auf dem Solibasar der Verkaufsschlager.

Ein bisschen peinlich ist ihr diese Geschichte schon. Sie will ja nicht als Streberin dastehen. Also behauptet sie, dass alle nur bei ihr gekauft hätten, weil sie so ein süßes Mädchen war. Vielleicht hatte sie auf dem Basar einfach die kräftigste Stimme.

So steht die Performerin und Theatermacherin Nicola Nord heute auf der Bühne: klein, blond und laut. In ihrem Stück „little red (play): ‚herstory‘ “ nimmt sie das Publikum mit ins Ferienlager der DDR. Sie erklärt, wie man ein Halstuch richtig bindet, nicht mit den Enden schlaff nach unten wie der Bart von Väterchen Stalin, sondern straff zur Seite wie Lenins Bart. Meist aber rennt „die kleine Rote“ auf der Bühne gegen die Zeit. Sie muss zurück ins Jahr 2000, denn im Jahr 2000, so hat sie es im Pionierlager gelernt, wird der Kommunismus weltweit gesiegt haben. Im Jahr 2000 ist sie mit den anderen Pionieren an der Weltzeituhr auf dem Alexanderplatz verabredet.

Nicola Nord sieht oft so aus, als wäre sie eben gerannt, auch an diesem Dienstagabend, als sie in Begleitung ihres Lebensgefährten Alexander Karschnia mit erhitzten Wangen das Restaurant „Gorkipark“ in Berlin betritt. Auf dem Weg diskutierten sie eine Idee für ihr neuestes Stück „eldederado – der letzte Sommer der Indianer“. Es wird um Western im Osten gehen. Gojko Mitić, der jugoslawische „Defa-Indianer vom Dienst“, wird darin eine Rolle spielen und Dean Reed, der aus den USA in die DDR desertierte „Cowboy“, sowie Sarah Günther, die Enkelin von Indianisten, die in der DDR den Kult um die amerikanischen Indianer lebten. Nord pustet sich die Haare aus der Stirn, während sie den Mantel abstreift. Sie erzählt begeistert von Sarah Günther, der jungen Schauspielerin aus Bautzen, deren Mutter als Dramaturgin am sorbischen Theater arbeitete.

Zum vierten Mal thematisieren Nicola Nord und Alexander Karschnia mit ihrer Theatergruppe andcompany & co. den Untergang der DDR und des Ostblocks. Die DDR ist quasi ihr Beruf geworden. Doch was geschah in Nords Leben zwischen der real existierenden und der Bühnen-DDR? Als die Mauer fiel, war sie vierzehn Jahre alt. Die Eltern und Freunde standen unter Schock. Es breitete sich das aus, was Nord heute „das große Schweigen“ nennt, die Unfähigkeit der westdeutschen Kommunisten, sich mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen. Auch bei Nord saß der Schreck tief. „Noch Jahre nach dem Mauerfall fühlte ich mich durch jeden Satz, der gegen die DDR gesagt wurde, persönlich beleidigt.“ Heute durchschaut sie die Propaganda, der sie als Kind in den sozialistischen Musterfamilien und -betrieben ausgesetzt war.

Sie setzt die Effekte ihrer DDR-Performances genau. Sie setzt ihren Sozialismus in Szene. Sie spielt ihn

Nord hatte Politikerin werden wollen. Nun studierte sie Film-, Theater- und Medienwissenschaften an der Goethe-Uni in ihrer Heimatstadt Frankfurt am Main. Ein Stipendium der Amsterdam School for Performing Arts führte sie und Alexander Karschnia in die niederländische Hauptstadt. Dort gründeten sie mit dem Musiker Sascha Sulimma andcompany & co., eine Theatergruppe, an die sich andere Künstler und Künstlergruppen projektgebunden andocken können.

In Amsterdam und New York, wo ihre Arbeit sie häufig hinführte, hörte man Nords Kindheitserinnerungen unvoreingenommen und mit großer Ernsthaftigkeit zu. Häufig wurde sie von Kollegen ermuntert, mit den Erfahrungen ihrer Kindheit zu arbeiten. „In Deutschland wären wir wahrscheinlich nie auf die Idee gekommen, ein Stück über den Kommunismus mit Nicolas Erinnerungen zu machen“, sagt Alexander Karschnia. „Dort war die Geschichte noch viel zu nah und zu blutig.“

„Little red“ wird der erste große Erfolg von andcompany & co. Nord glaubt, sie habe mit dem Stück „das große Schweigen“ endlich gebrochen. Im Vorfeld der Arbeit hatte sie ehemalige DKP-Mitglieder interviewt. Weil Nord eine von ihnen war, hatten sie eingewilligt und zaghaft von ersten Zweifeln gesprochen, die sie bereits damals hatten. Das Stück entsteht gegen die Bedenken von Nords Eltern. Es ist ein erster Schritt zum eigenen Umgang mit der Kindheit, die Nord ihren Eltern niemals zum Vorwurf gemacht hat. Nicht radikal noch ängstlich, dass ihre Arbeit zum Bruch mit den Eltern führen könnte, wählt sie die kindliche Perspektive auf die Geschichte, immer wieder gebrochen durch ironische Distanz.

Ideologische Unentschlossenheit flackert durch die gesamte Inszenierung. Wenn Nord von der Angst ihrer Eltern spricht, dass ihnen im Theaterstück der Tochter die eigene Vergangenheit um die Ohren fetzt, man sich über sie lustig machen könnte, wird spürbar, wie sehr das auch noch ihre eigene Angst ist. Doch die absurde Zeitreise im Dekor der sowjetischen Dreißiger- – und ostdeutschen Siebzigerjahre tut niemandem weh.

Nord setzt die Effekte ihrer DDR-Performances genau. Sie setzt ihren Sozialismus in Szene. Sie spielt ihn. Nach dem Spiel überlässt sie Alexander Karschnia das Gespräch. Von ihm kommt der intellektuelle Unterbau der Inszenierungen.

Sie hatte von ihren Eltern gelernt, dass die DDR das bessere, das gerechtere Deutschland sei

Karschnia promovierte über das Theater von Heiner Müller. Die Debatten der Intellektuellen in den Anfangsjahren der DDR schmökert er weg wie andere skandinavische Krimis. Das Paar liest Heiner Müller und Brecht. Sie diskutieren Derrida. Von dem russischen Futuristen Welimir Chlebnikow ließ sich Karschnia zur Idee der „time republic“, dem Nachfolgestück von „little red“ inspirieren. Dem dritten Teil, „Mausoleum buffo“, ging ein intensives Studium des Stalinismus und seiner Folgen und eine Reise nach Moskau voran. Die Intensität dieser Arbeit macht die Klugheit und den eigenen Stil und damit den Erfolg von andcompany & co. aus.

Der Schmerz, Nords Schmerz, der auch Karschnias Schmerz ist, arbeitet mit, noch verschwiegen. Nord zieht eine abgegriffene Plastikhülle aus ihrer Handtasche. Darin steckt eine zerfledderte Ausgabe der Zeitung Pionier aus dem Jahr 1988. Das Cover zeigt sie mit ihrer Band „Coolkids“. Aus runden, blauen Augen blickt sie ernst in die Kamera, in einer 1980er-Jahre-Bandleader-Pose, Nase nach vorn. Ein Abschiedsbrief steckt auch in der Hülle, aus dem Jahr 1990. Eine Freundin beschreibt darin detailliert ihren Abschied von der DDR, den sie am Tag der Wiedervereinigung allein mit DDR-Fahne in der Küche ihrer Eltern zelebriert.

Im vergangenen Jahr ist das Paar nach Berlin gezogen, nach Kreuzberg. Vorausgegangen war das Angebot einer dauerhaften Zusammenarbeit mit Matthias Lilienthal vom Hebbel am Ufer. In Berlin gehen sie bei Theatermachern der DDR ein und aus, für die der Traum vom Kommunismus in jenem Jahr starb, als das DKP-Verbot im Westen aufgehoben wurde und Nords Eltern eintraten: 1968, im Jahr des Prager Frühlings.

„Auf der Bühne bin ich Kommunist“, sagt Karschnia. „Brecht sagte, dass Kunst und Kommunismus mit dem Unmöglichen zu tun haben. Deswegen habe ich in unseren Blog geschrieben: ‚Seien wir realistisch, Genossen! Versuchen wir das Unmögliche!‘ “ Und Nicola? Sie nickt. Vorsichtig. „In meinem Herzen auf jeden Fall“, sagt sie. Es ist ein schwieriges Geständnis. Ganz und gar nicht reif für eine typische andcompany-Performance. Noch nicht.