Keiner sagt: Super, Ministerin

Ulla Schmidt wurde mit 34 Sozialdemokratin. Keine Genossin, die auf Parteitagen zu Hause ist

aus Bochum ULRIKE WINKELMANN

Jetzt im Ernst: Das Lächeln ist echt. Es ist so echt, wie ein Lächeln nur sein kann, mit dem man alles macht: alte rheinische Freunde begrüßen, patzige Ärzte umwerben, komplizierte Gesundheitsreformen erklären, Ministerkollegen ausbremsen. Es ist ein Allzwecklächeln. Es gehört dazu und tut seinen Dienst.

Ulla Schmidts Lächeln ist berühmt, weil es so schnell ist, so breit und gleichmäßig und fast jeden Satz abschließt. Es sind Kronen, wunderbar gemacht. Fast nahtlos setzt das Zahnersatzweiß am Zahnfleisch an.

An diesem Montagmorgen in Bochum strahlt sie wieder einmal besonders warm. Es gibt Frühstück im Hotel, ringsum sitzt die Regierung bei Brötchen und Kaffee, draußen im Park nieselt es novembrig, gleich beginnt der Parteitag der SPD offiziell mit Gottesdienst und Brimborium. Die Ministerin hat bereits das Wochenende in der Antragskommission verbracht, wo an den Forderungen und Textbausteinen gebosselt wird, den Worten, die von diesem Parteitag aus in die Welt gesendet werden sollen. Auch die Kungelrunden haben sich längst getroffen, um auszuhandeln, ob sich linke Stimmen für Wolfgang Clement kaufen lassen, wenn man in Gegenzug linke Kandidaten rettet. Nicht dass sich nachher noch alle an diese Absprachen hielten, aber kungeln hat Tradition und ist deshalb schön.

Für Politiker ist die Veranstaltung auch wichtig, weil das Parteiritual genauso ein Medienritual ist. Man muss sich den Wählern im Fernsehen zeigen, und vielleicht bringt man auch noch die eine oder andere Information darüber unter, woran man so lange gearbeitet hat. Im Fall Ulla Schmidt sind es die Zähne, nicht ihre eigenen. Der Zahnersatz ist zu einem Symbol der Gesundheitsreform geworden, die sie in diesem Jahr mit der Union ausgehandelt hat. Irgendwie glauben alle, dass die SPD jetzt dafür ist, dass der Status der Menschen an ihren Gebissen zu erkennen ist.

Auch in den Protestreden vor den Hallen des Ruhr-Congress-Zentrums in Bochum kommt dieser Vorwurf vor, auch in den Zeitungen, die hier verteilt und verkauft werden, selbst in den Redebeiträgen einiger Delegierter. Das ist nicht gut. Denn der Parteitag soll den Sozialdemokraten und der Bevölkerung erklären, warum die Agenda 2010 sein muss. Die Sozialministerin ist die einzige, die mit ihrer Gesundheitsreform davon schon etwas umgesetzt hat, und die Sache mit dem Zahnersatz stimmt so einfach nicht.

Deshalb wird Ulla Schmidt gerade etwas bestimmt bei Fruchtquarkbrötchen und Cappuccino. „Die wollen es nicht verstehen!“ Schmale Augen, schmaler Mund. Frau Schmidt hat abgenommen in diesem Jahr – sonst hat sie sich bei solchen Gelegenheiten immer ans Kostümrevers gefast, um den Sitz des Blazers zu korrigieren, ein kurzes und unwilliges nach vorn Rucken. Nicht mehr nötig. Alles sitzt. Unendlich oft hat sie es allen eingetrichtert, dass sich beim Zahnersatz nichts ändert, außer dass die Pflichttversicherung dafür teurer wird. Doch der Wunsch der Öffentlichkeit, Schmidts unübersichtliche Reform in einen Begriff zu fassen, ist stärker. Immer wieder taucht diese Behauptung auf: für Arme demnächst keine Kronen und Gebisse mehr.

Ulla Schmidt weiß eigentlich, wie so was funktioniert. Sie ist Expertin für Ängste: „Die Menschen lesen ja nicht täglich alle Zeitungen. Die hören hier oder da mal was und verfolgen das nicht weiter, und das bleibt dann hängen.“

Sie lässt keine Gelegenheit aus, dem Volk zu erklären, warum es sich vor der Gesundheitsreform nicht fürchten muss, und auch nicht vor Rentenkürzungen. Nach dem Frühstück steuert sie auf die Demonstranten vor der Kongresshalle zu. Sie beplaudert den Rentner, der ihr seine Empörung zuruft auf dem Weg vom Hotel durch den Park, bis der zufrieden abzieht. Einfache Worte, das kann die 54 Jahre alte Sonderschullehrerin aus Aachen. Dass die Journalisten trotzdem schreiben, was sie wollen, ärgert sie. Schließlich hat sie sich den ganzen Schwurbel der Sozialpolitik auch angetan, die unendlichen Berechnungen, die Formeln, die Details.

Die Details. Sie sind ihre Stärke. Mit den Details hat sie sich hochgearbeitet bis zum Titel „Superministerin“. Keine Frau hatte je ein so großes Ministerium mit so einem Etat unter sich. Rente, Pflege und Gesundheit – 92 Milliarden Euro, 90 Prozent der Bevölkerung sind betroffen von dem, was in Schmidts Ministerium ausgetüftelt wird. 1990 wurde sie in den Bundestag gewählt und nur wenige Monate später ermuntert, Frauenreferentin zu werden. Peter Struck, damals parlamentarischer Geschäftsführer soll sie gefördert haben. Ihr erster Fraktionsjob hat sie auch gleich ihre Heimat in der parlamentarischen Linken gekostet. Die waren sauer, dass Schmidt nicht gefragt hatte, ob sie sich küren lassen dürfe, und erklärten sie zur Kandidatin der Gegenseite, der „Seeheimer“. Seither gehört sie zu denen. Die Konservativen, sagt Schmidt, „sind einfach menschlicher“.

Von der Frauenpolitik ist es nie weit zur Sozialpolitik, und Schmidt wurde Rentenexpertin, machte den Minenhund für Walter Riester, erschnüffelte in der Fraktion, was den Abgeordneten zuzumuten war. Dass sie jedoch auch das Zeug zur Gesundheitsministerin hätte, als sie Anfang 2001 der wegen BSE zurückgetretenen Grünen Andrea Fischer nachfolgte, glaubte kaum jemand. Zumal sie bis zur Wahl 2002 nur eine einzige Aufgabe vom Kanzler aufgedrückt bekam: den Laden ruhig halten. Was der Aufforderung gleicht, ein wenig mit blutigen Fingern in einem Becken mit hungrigen Piranhas zu rühren. Aber bitte ohne dass es dann zu Wellenschlag kommt.

Schmidt lächelte, lupfte den Kostendeckel auf den Arzneiverordnungen, um die Ärzte günstig zu stimmen, und tat, als mache ihr der Hohn in der Presse nichts aus. Nach der Wahl im Oktober 2002 wurde sie nicht geopfert, sondern bekam vom filetierten Riester-Ministerium die Rente dazu. Sieh an.

Das alles hat sie hinter sich, die Gesundheitsreform ist gelaufen, in der Rentendiskussion wird der Parteitag wohl nicht mal ein Schlenker sein. Worum geht es ihr dann? Nur ein langweiliger Pflichttermin? Eine Wahl ist es jedenfalls nicht, sie hat kein Parteiamt. Und bestimmt ist sie auch nicht gekommen, um sich auf dem Presseabend unter alle die wichtigen glänzendes Anthrazit gekleideten Männer zu mischen – auch wenn es ihr sichtlich gefällt, dass sie einige Bekannte trifft, die sich deutlich vom Anthrazitheer unterscheiden mit ihren Karojackets und den dazu nicht passenden Hemden. Nun gut, ein paar Winzigkeiten zu Rente und Pflege mussten noch in den Leitantrag hinein. Die Bürgerversicherung muss im wolkigen Irgendwie und Irgendwann gehalten werden. Aber wer erst mit 34 aus Entrüstung über die verlorene Wahl 1983 in die SPD eingetreten ist, ist keine Genossin, wie sie auf einem Parteitag zu Hause ist. Vielleicht möchte eine Ministerin aber einfach eine wichtige Rolle spielen bei so einem Ereignis, gelobt werden für ihren Beitrag zur Agenda 2010.

Schröder hält seine Rede, auch er in Anthrazit. Er umschmeichelt Innenminister Otto Schily, nimmt Finanzminister Hans Eichel in Schutz und bedankt sich ausdrücklich bei Familienministerin Renate Schmidt, weil sie das Kinderkriegen netter mache. Die Gesundheitsreform nennt er. Ohne Ministerin.

Warum versteht keiner die Details? Sie kennt das ganze Zeug doch auch

Ulla Schmidt sitzt auf dem Podium, zweite Reihe rechts, zwischen Struck und Manfred Stolpe. Sie klatscht jedesmal zum richtigen Zeitpunkt.

„Eine Unverschämtheit“, sagt später jemand am Rande, der sein Ohr an Drähten zwischen Kanzleramt und Sozialministerium hat.

Dass der Kanzler Schmidts Liebe zur Sache und ihren Details nicht so teilt, hat er sie oft genug spüren lassen. Gerhard Schröder war es, der ihr in die Parade fuhr, als sie der Pharmaindustrie einen Pillenrabatt abzwacken wollte. Er hat beschlossen, statt der Unfälle die Kosten fürs Krankengeld den Arbeitnehmern zuzuschieben. Sein nächtliches Telefonat mit CDU-Chefin Angela Merkel hat letztlich den so schwer erklärbaren Zahnersatz-Kompromiss erbracht. Was zunächst Schmidts Schwäche ausmachte, verwandelte sich dann doch als Vorteil. Denn immerhin: Jetzt sind an allem Bösen Schröder und die Union schuld. Sie selbst hat jetzt den Ruf, erstens einen stimmigen Gesetzentwurf vorgelegt zu haben, der aber zweitens aufgrund widriger Umstände verstümmelt wurde. So gilt sie nun sowohl als Reformerin als auch als pragmatische Handwerkerin mit umsichtigen Mitarbeitern. Reicht ihr das?

Nach der Rede ist Schmidts braun glänzender Schopf links hinter Schröder die meiste Zeit gesenkt, sie blättert in Papieren. Was soll sie auch sonst tun auf diesem Parteitag außer arbeiten?

Die Männer, sagt später die DGB-Vizechefin Ursula Engelen-Kefer über Schmidts Position, hätten keine Lust auf die Details. „Sie weisen Frauen die Rolle zu, sich damit abzukämpfen. Ernst nehmen sie sie deshalb nicht.“ Solange sich in der SPD vor allem die durchsetzen, die das Ein-ganzer-Kerl-Muster bedienen, wird Ulla Schmidt bleiben, was sie jetzt ist: eine Superministerin. Eine, die etwas umsetzen kann. Aber nur solange, wie es bestimmten Leuten gefällt.

„Es ist besser, unterschätzt zu werden als überschätzt“, sagt sie.