Beruf: Kanzlerbruder

Heute erscheint ein Vorabdruck aus Lothar Vosselers Werk „Der Kanzler, leider mein Bruder, und ich“ – auf Taschentücher gedruckt. Bei aller Komik dieses Vorgangs: Der Halbbruder Schröders scheint endlich eine Heimat gefunden zu haben

An Lothar Vosseler war eigentlich nichts interessant, nur das eine: seine ArbeitslosigkeitDer Manager Marcus Zander freut sich schon auf die Auflage: „Lothar ist unser Michael Moore“

VON NADJA KLINGER

Vosseler hat Schröder gewählt. Na klar. Sie hatten eine schöne Zeit miteinander. Zwölf Jahre ihres Lebens. Die Kindheit. Schröder war ein Morgenmuffel, kam schlecht aus dem Bett, weil es kalt im Zimmer war. Aber spätestens beim Frühstück war er voll da. Da kämpften sie um das bisschen Wurst, das im Hause war. Schröder soll meistens gewonnen haben. Wenn die beiden Halbbrüder, jetzt, Jahrzehnte später, nebeneinander stehen, der eine mager, der andere zweifellos satt, schaut es aus, als hätte Vosseler sich seit damals stets kampflos zurückgezogen, wenn es um die Wurst ging.

Viele Leute haben Schröder gewählt. Zumindest hat es dazu gereicht, dass er Bundeskanzler wurde. Plötzlich stand bei Vosseler in Detmold die Klatschpresse vorm Haus. Damit hatte er nicht gerechnet. Er hat denen was erzählt, hat kurze Sätze gesprochen, wie immer, so kurz, dass wirklich nicht mehr als die Wahrheit hineinpassen konnte. Tags darauf waren die kurzen Sätze als Interview mit ihm in der Zeitung. In einem fort klingelte das Telefon. Irgendwie hat sich Vosseler gegruselt. Er hat bei Schröder angerufen. Du musst selbst entscheiden, ob du mit denen redest, soll sein großer Bruder gesagt haben, aber du musst wissen: Jetzt jagen die dich, jetzt wirst du die nicht mehr los. Dann hat Schröder, der zwar Kanzler war, aber auch nicht alles genau wusste, ihn weitergereicht: Sprich mal mit Doris, die kennt sich da besser aus. Vosseler war ziemlich durch den Wind. Hoffnungsvoll hat er seiner Schwägerin zugehört.

Es war aber nichts mehr zu machen. Vosseler ist ein Klatschpressenpromi geworden. Für die dicken Schlagzeilen, die erschienen, brauchte er im wahrsten Sinne des Wortes nichts zu tun. Er war kein Ereignis. Die Fotos, die man von ihm abdruckte, illustrierten nur einen pikanten Fakt: Der Kanzlerbruder war arbeitslos.

Man wollte nicht wirklich was von ihm wissen. Nicht, dass er mal ziemlich gut Fußball gespielt hatte. Nicht, dass eine Karriere eines Tages den aufregenden Geruch von Schweiß, frisch gestutztem Rasen und Leder verliert und zu einer nüchternen Geschichte von gebrochenen Knöcheln und Kreuzbandriss wird. Mitunter lauerten den ganzen Tag Kameras vorm Haus, so dass Vosseler sich durch den Garten hinten rausschleichen musste. Die Kameras waren ja nicht darauf aus zu erfahren, wie der EDV-Fachmann 30 Jahre lang seinen Beruf gemacht hatte. Man wollte ihn dabei beobachten, wie er einfach keinen Job fand.

Nicht nur auf dem Boulevard ist Vosseler gehandelt worden. Er war bei Beckmann, bei Maischberger, Kerner. Man hat ihn vor Sendebeginn gefragt, worüber er reden wolle. Immer hat er kurze Antworten gegeben, wie sie in Talksendungen nicht zu gebrauchen sind. Trotzdem waren alle ausgesprochen nett zu ihm. Vosseler ist irgendwie liebenswürdig. Er hat diesen geraden Blick ins Offene. Selbst wenn er eine starke Zigarette nach der anderen raucht, sieht das noch unschuldig aus. Er ist der Marlboro-Mann, für den man, während er noch sein Pferd streichelt, schon mal das Feuer entzünden würde. Aber das weiß er nicht. Wann immer sie nett zu ihm waren, das hat er geschnallt, hatte das diesen pikanten Hintergrund.

Und auch wenn sie nicht nett zu ihm waren. Das war ja das Verrückte.

Einmal hat er RTL nicht ins Haus gelassen, da sind sie aufs Arbeitsamt gefahren und haben dort recherchiert. Daraufhin ließen die Berater Vosseler wissen, dass es für die Arbeitsvermittlung nicht förderlich wäre, der Bruder vom Kanzler zu sein.

Die „Westfalentherme“ in Bad Lippspringe hat ihn als Haustechniker angestellt. Am ersten Arbeitstag waren gleich Fotografen da. Genau das hatte der Chef wohl gewollt. Im Interview erklärte er, er stelle sehr gern ältere Arbeitskräfte ein. Nach einem halben Jahr ließ der Werbeeffekt nach und der Haustechniker wurde nicht mehr gebraucht.

Eine Kanalbausanierungsfirma hat ihn dann genommen. Er war für Dokumentation und Inspektion verantwortlich. Sie wollten ihn für die Betriebszeitung fotografieren, dazu sollte er in ein Loch steigen und oben rausgucken.

Dabei war er bei der Arbeit nie im Kanal, sondern mit dem Auto unterwegs. Das Foto zeigte: Vosseler steckt kinntief in der Brühe. Es war nicht nur in der Betriebszeitung, sondern überall. Bald wurden 40 Leute entlassen. Vosseler war unter ihnen.

Dann war er zum ersten Mal in seinem Leben auf Mallorca. Auch hier hatte er einen Kanzlerbruderjob. Ein Jahr lang stand er im weißen Anzug, mit Kapitänsmütze auf einem Schiff, das Touristen aufs Meer brachte. Allzu viel Geld gab’s nicht, dafür durfte seine Frau dabei sein, sie wohnten mit Meerblick, hatten zwei Minuten zum Strand. Sonntag und Montag hatte Vosseler frei. Ansonsten ging es etwa zehnmal täglich aufs Meer. Im Neckermann-Katalog, im Prospekt von Air Berlin, in Hotels stand geschrieben, wer der weiße Mann auf dem Schiff wirklich war. Zum Glück gingen öfter Russen an Bord, die das nicht interessierte.

Die Deutschen hingegen ließen keine Gelegenheit aus und luden Vosseler sogar zum „Großen Deutschen Buchstabiertest“ ein. Bei der Fernsehaufzeichnung lernte er den Autor Ernest Buck kennen. Der riet ihm, ein Buch zu schreiben. Vosseler saß dicht neben dem Schlagersänger Bernhard Brink, als wären sie beide aus ein und derselben beschwingten Welt. Aber er verlor niemals die Kontrolle: „Ich ein Buch?“ Dann hatte die Sache sich erledigt.

Dieser Tage hat Ernest Buck so viel zu tun, dass er nicht aus seinem Wilmersdorfer Arbeitszimmer kommt. Vor fünf Wochen hat er Vosseler beim Abendessen in Berlin aufs Band sprechen lassen. Er hat sich mehr und mehr an die schöne Kindheit mit dem Bruder erinnert. „Dass ich das noch mal erleben durfte“, sagt er. Es klingt wie kurz vorm Ende.

Sollte Ernest Buck tatsächlich mit dem Abschreiben der Bänder rechtzeitig fertig und der Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag der Manuskripte habhaft werden, ist im Dezember Buchpremiere von „Der Kanzler, leider mein Bruder, und ich“. Vielleicht will Vosseler die Kanzlerbruderzeit loswerden, indem er sie den Leuten zum Fraß vorwirft. Vielleicht will er gar nichts, nur ein bisschen Geld.

Vielleicht hat er sich plötzlich sichergefühlt. Bei Petra Kilian, Bucks Lebensgefährtin, die sich sofort um die Presse gekümmert hat. Bei Marcus Zander und Sven Meisel, die im selben Haus wie Buck arbeiten. Sie nennen ihn alle „den Lothar“. Sie sind jünger als er und schon in Fertigwindeln durch die C-Promiszene gerobbt, in der Vosseler immer ein Fremder bleiben wird. Meisel führt in dritter Generation die Geschäfte des Musikverlags seiner Familie. Zander leitet Zett-Records. Sein Vater ist Frank, der Schlagersänger. Allgemein geht’s dem Musikgeschäft schlecht, aber Meisel und Zander sind lustige Typen, die nicht einmal in so einer Situation jammern können.

Zusammen mit Ernest Buck haben sie sich entsprechendes ausgedacht. Ab heute gibt es an 50.000 Kiosken in Deutschland jeden Freitag ihre Taschentuchzeitung, eine Packung Papiertaschentücher, die man lesen und dann zum Schnauben benutzen soll. Sie startet mit aktuellen satirischen Texten und einem Vorabdruck von Vosselers Buch.

Petra Kilian hat das Patent angemeldet, die Männer die Zulassung als Presseartikel erkämpft. Weil die Kanzlergeschichten dem zuständigen Beamten bei der Oberfinanzdirektion unheimlich waren, haben sie die scharfen Passagen im Text überklebt. Das war sinnlos, aber erfolgreich. „Der Mann war damit überfordert, ein Papiertaschentuch als Zeitung zuzulassen“, sagt Meisel. Auch das Haus Springer ist wieder abgesprungen, nachdem es dem Vertrieb der Zeitung schon zugesagt hatte. Nur auf die Presse ist Verlass. Die Journalisten kommen von überallher aus Deutschland, aus Frankreich, Großbritannien, Polen. Vosseler, der in den Räumen der Musikverlage längst zum Inventar gehört, soll sich fürs Foto das Taschentuch vor die Nase halten. „Das Reinschnauben könnte das größte Problem werden“, sagt der Anwalt von Meisel und Zander.

Da Vosselers Buch noch geschrieben wird, wissen sie auch gar nicht, was da noch auf sie zukommt. „Irgendwie toll, ein Buch zu verkaufen, ohne zu wissen, was drin steht“, sagt Meisel. Vosseler hat es Schröder nicht angekündigt. „Ist ja auch schwer, ihn zu erreichen“, sagt er und ruckelt an seiner Brille. „Aber da wird nichts kommen, ich kenne Gerhard.“ Zander und Meisel grinsen, als wäre ihnen das gar nicht so recht. „Lothar ist unser Michael Moore“, sagt Zander.

Am Dienstag ist Vosseler wieder bei Kerner. Sven Meisel und Marcus Zander werden im Publikum sitzen. Sie sollen dann reden, wenn es um geschäftliche Dinge geht. Vosseler wird mit Wolfgang Thierse und Walter Momper im Scheinwerferlicht sitzen. Er hat nicht mal Lampenfieber. „Warum denn auch?“, sagt Zander. „Die werden nichts sagende, verschachtelte Sätze reden. Der Lothar wird einen Satz sagen. Aber der stimmt!“

Petra Kilian weicht ebenfalls nicht von Vosselers Seite. In Interviews gibt sie sogar Antworten für ihn. „Sie steuert alles so“, sagt Vosseler, „dass ich nichts mehr machen muss, was ich nicht machen will.“ Hat er schon mal was abgelehnt? „Hab ich?“, fragt er Petra Kilian. „Wir wollen nicht alles“, sagt sie.

Unterm Schutz von Kilian wirkt Vosseler so stark, als könnte er seinen Bruder auch mal in aller Öffentlichkeit verteidigen. „So wie’s in Deutschland war, kann’s nicht bleiben“, sagt er zur Agenda 2010. „Aber seinen Job muss Gerhard schon selber machen.“ Zum Glück ist er der Bruder. „Man darf nicht vergessen, dass Herr Schröder den Lothar auch nie unterstützt hat“, sagt Petra Kilian. „Richtig“, sagt Vosseler.

Damals, als Doris Schröder-Köpf am Telefon wegen der Klatschpresse mit ihm gesprochen habe, sei ja auch nichts dabei herausgekommen, fügt Kilian hinzu. „Nein“, sagt Vosseler. Des Kanzlers Medienberater haben sich nie um ihn geschert. Bruder Gerhard hat auch nie mal gefragt, wie es Bruder Lothar geht. Nur die Türkei hat sich gekümmert. Vosseler wurde auf Staatskosten eingeladen. Man konnte es dort nicht fassen, dass der Bruder des Kanzlers ohne hohen Posten war. Es gab auf der Reise richtig so was wie ein Protokoll. Lothar Vosseler hat am Mausoleum von Mustafa Kemal Atatürk für Deutschland einen Kranz niedergelegt.