Die Rübergemachten

Sie alle haben ihre Heimat verlassen, als die Mauer quer durch Deutschland ging. Sie wechselten von Ost nach West – oder umgekehrt, von der Marktwirtschaft in den Sozialismus. Wie sehen sie ihren Lebensweg heute? Sechs Porträts (Text und Foto) von JUDITH HYAMS

Horst-H. Filohn, 53

„Kein vernünftiger Mensch ist Optimist, ich bin es idiotischerweise. Ich bin jemand, der sich zehnmal mehr für das Morgen interessiert als für das Gestern“, sagt Horst-H. Filohn. Schon als Jugendlicher im kleinen Zeesen hatte er „keine Lust auf den Maulkorb“, überall eckte er an und verweigerte den NVA-Wehrdienst. Ein Platz für sein Wunschstudium Architektur wurde ihm verwehrt: zu viele Einträge in seiner Kaderakte.

Der Zufall verschaffte ihm einen Job als Bühnenarbeiter beim Deutschen Theater in Ostberlin. Drei Jahre blieb er dort. Freunde, schon vorher aus der DDR geflohen, organisierten seine Flucht. Zwei Tage vor Ostern 1975 gelangte Filohn im Kofferraum eines Ford Transit in den Westen. Eingewöhnt hat er sich schnell. Nur in den ersten Tagen war er erschöpft, weil „alles so bunt war, die orangefarbenen Müllkästen aussahen wie Briefkästen, und alles einen förmlich ansprang – das war etwas erschreckend, aber auch ungeheuer anregend“. Heuchelei und Entmündigung verbindet er mit der DDR – und Langeweile. „In dieser Jäger- und Sammlergesellschaft ging die meiste Zeit mit Organisieren drauf. Es gab eigentlich alles, nur eben von allem zu wenig, zu hässlich und von schlechter Qualität.“

Allmählich kam sein ganzer Freundeskreis in den Westen. Als er merkte, wie einige von ihnen anfingen, „wie die Türken in Kreuzberg unter sich zu bleiben, und sich immer nur über Vergangenes unterhielten“, brach er den Kontakt ab. Den Satz, in der DDR habe es mehr Nähe gegeben, hält Filohn für verlogen. „Der Geist der Zusammengehörigkeit ist nur durch Druck von außen gewachsen. In der DDR hatte das seine Berechtigung, danach nicht mehr.“

Nach einer Zeit als Requisiteur an der Freien Volksbühne in Berlin arbeitete er als technischer Leiter am Renaissance-Theater, seit 1985 als Intendant. Er liebt das alte Haus, seinen Plüsch und die Art-Deco-Fenster ganz unnostalgisch: Das Spiel beginnt immer morgen.

Jutta Gaudian, 59

„Wenn Dresden mal im Westen liegt, geh ich zurück“, hat Jutta Gaudian oft gesagt. Dabei war sie zufrieden in Marburg, kombinierte Beruf und Familie so gut wie in der DDR und fand das Ostgerücht bestätigt, „dass der Himmel blauer, das Gras grüner war. Weil die Luft klarer war als im Osten“. Die Sehnsucht nach Dresden aber legte sie so wenig ab wie die sächsische Sprachmelodie.

Die Auswahl zwischen „sieben Sorten Salz, Versicherungen und sogar Schulen“ fand sie anstrengend. Am längsten wirkte die Angst vor Ämtern nach: „Selbst zur Volkshochschule konnte ich mich erst nur schriftlich anmelden.“ Ein Jahr lang, ab April 1979, war sie als Ausreisewillige immer wieder verhört worden. Manchmal verraten Details ein System: Die Protokollzimmer hatten weder außen noch innen Klinken. Die Stasi bestimmte, wer wann raus durfte – wenn überhaupt.

Vor allem ihren Mann zog es in den Westen. Der Wiederaufbau der Semperoper bot dem Denkmalpfleger die Chance, beruflich ins „kapitalistische Ausland“ reisen zu dürfen. Nach dem heimlichen Entschluss, drüben zu bleiben und die Familie nachzuholen, verschwand er. Bei der Stasi stellte sich die junge Mutter ahnungslos – auch, als die ersten Briefe ihres Mannes kamen. Beim Ausreiseantrag berief sie sich auf das Helsinki-Abkommen zur Familienzusammenführung. Im März 1980 hieß es unvermittelt, Jutta Gaudian habe innerhalb von 24 Stunden auszureisen.

„Ich wollte immer zurück zu meinen Leuten, aber nie zurück in die DDR.“ Weil ihr jüngstes Kind noch die Schule besuchte, zog Jutta Gaudian erst 1995 zurück nach Dresden. Plötzlich war sie „die aus dem Westen, die ohne Wendeerfahrung“. Da sie beide Seiten kennt und schätzt, ist sie enttäuscht über die Ressentiments zwischen West und Ost.

Ernst Fink, 66

Ernst Fink graust es noch heute, wenn er an seine Schulzeit in den Fünfzigern im Kreis Siegen denkt. Fast flog er von der Schule, weil er nicht „Deutsch bis ans Grab“ mitsingen wollte. Während seines Studiums zum Berufsschullehrer trat er der KPD bei, brüllte während der Kubakrise: „Cuba si, Yankees no!“ Ein 68er ist er aber nicht geworden: Fink verließ die BRD schon 1964. Die Liebe zu seiner jetzigen Frau war ein Grund – sein Wunsch, die DDR „von innen positiv zu beeinflussen“ und das „widerlich antikommunistische“ Umfeld in Aachen zu verlassen, der andere.

Als harmlose Brieffreundschaft mit einer jungen Lehrerin hatte es begonnen. Ein paar Jahre schrieb man sich, er fragte nach den politischen Verhältnissen, sie schrieb lieber von Konzerten und ähnlich „bürgerlichen Geschichten“. Auf einem FDJ-Jugendtreffen in Thüringen begegneten sie sich, schrieben sich weiter, organisierten ein Wiedersehen. Kurz darauf stand Finks Entschluss fest, auch wenn ihn sein Umfeld für verrückt erklärte. Die Parteigenossen drängten, der Westen brauche jeden Genossen, im Osten gebe es genug. Ernst Fink ging trotzdem. „Man sieht ja“, sagt er lachend, „wie viele Genossen heute noch übrig sind.“ Damit spielt er auf die vielen Rechtswähler in der Gemeinde Reinhardsdorf-Schöna an, seit 1964 seine Heimat. In der DDR beklagte er die Heuchelei der Amtsträger, heute macht er mit der Jugendorganisation „Zivilcourage“ gegen rechts mobil.

Obwohl er als Lehrer (der einzige für Englisch im ganzen Umkreis) bald unersetzlich war, gab es im Kollegium oft Probleme. Auch einen Idealisten wie ihn ernüchterte die DDR-Realität. Zur Wende warnte er vor zu viel Euphorie. Im Dorf sieht man heute eher in ihm den Störenfried als in den Jugendlichen, die die Polizei mit „Sieg Heil“ begrüßen. An die Ideen der DDR, sagt Fink, habe er immer geglaubt. Nur vom Mangel an Demokratie sei er enttäuscht worden und der Feigheit der Menschen.

Annelies Straube, 61

Der Beamte des Ministeriums für Innerdeutsche Angelegenheiten hatte Annelies Straube einen „steinigen Weg“ prophezeit. Als sie im Sommer 1982 zur Silberhochzeit ihrer Schwester nach Hessen reisen durfte, hatte sie aus einer Telefonzelle dort anonym um Informationen zur Ausreise gebeten. Zurück im sächsischen Meißen, stellten Annelies Straube und ihr Mann Ausreiseanträge. Weil sie weder sich noch andere gefährden wollten, kam eine abenteuerliche Flucht nie in Frage.

„Wie wollten nicht immer zwei Linien vertreten“, sagt Annelies Straube, „eine offizielle für den Betrieb und die andere, wie man wirklich denkt.“ Im April 1983 wurden Straubes von der Stasi vorgeladen, einzeln verhört und einfach dabehalten. Ihr Vergehen nach Paragraf 100 des DDR-Strafgesetzbuchs: „Kontaktaufnahme mit einer fremden Macht“. In Schauprozessen wurden sie faktisch als Agenten verurteilt, Dieter Straube zu anderthalb Jahren Haft, seine Frau zu 22 Monaten im berüchtigten Frauengefängnis Stollberg. Wie eine Marionette habe sie sich damals gefühlt. Der Eindruck, nur Spielball zu sein, blieb sogar, als man die Straubes ohne Ankündigung im Dezember 1983 in den Bus Richtung Grenze setzte: Vermutlich waren sie freigekauft worden – und dienten der DDR als Geldquelle.

In Marburg fanden sie rasch Arbeit und Wohnung und gelangten zu der Erkenntnis, dass der Westen auch kein Schlaraffenland ist. Als ungeheures Privileg empfindet es Annelies Straube, dass sie in eine noch nicht durch die Wende chaotisierte Gesellschaft kam, und den Westen in aller Ruhe kennen lernen konnte. Heute leben die Straubes abwechselnd in Meißen und nahe Heidelberg. Das Ehepaar findet das früher Unvorstellbare heute ganz normal: In West und Ost zugleich zu leben.

Kees Berkouwer, 76

Im Belziger Infocafé kennt Kees Berkouwer jeden, die meisten Gäste sind Asylbewerber. Auch er kam aus dem Ausland, doch seine Geschichte hat nichts mit Flucht und Verfolgung, viel aber mit Neugier und Idealismus zu tun. Wenn er sagt, „nur dahin zu segeln, wohin der Wind mich weht“, glaubt man ihm den Gleichmut nicht. Gegen den Strom schwamm er, als er in den Achtzigerjahren häufig in die DDR fuhr und 1987 ganz ins Brandenburgische zog.

Der Agraringenieur, der internationale Großkonzerne und Regierungen beriet und „gute Autos und gute Weine“ genoss, unterstützte nebenher den ANC, las sich in feministische Theorien ein und war eifriger Verfechter des sozialistischen Prinzips gerechter Verteilung. Ein Widerspruch, den er „viel zu spät“ löste, indem er den Job aufgab und in den Osten zog.

1985 kam er das erste Mal. Dass es Dörfer ohne Ampeln gab und alle Frauen arbeiteten, fand er bemerkenswert. Auch sah er die Leute weniger den Äußerlichkeiten verhaftet, empfand sie als angenehm in sich ruhend. Blind hat ihn die Begeisterung nie gemacht. Besonders das gegenseitige Bespitzeln empfand er als „geistigen Terror“.

Seit 1987 lebt Kees Berkouwer nahe Belzig, erst als Arbeitsloser, der vom niederländischen Staat noch Unterstützung bezog, später als Rentner. Wirklich DDR-Bürger werden wollte er nie: „Ich wollte hier sein; aber das Risiko, dass etwas schief geht, war mir zu hoch.“ Er besitzt nach wie vor den niederländischen Pass. Wenn er nicht am alten Bauernhaus arbeitet, engagiert er sich für Asylbewerber, berät sie, übersetzt ihre Anträge. Ihr Leben und ihre Schicksale verfolgt er so neugierig, wie er vor fünfzehn Jahren die Wende miterlebte. Kurz zuvor schenkte ihm sein Bruder einen roten Schal und sagte: „Den brauchst du doch jetzt, wo du drüben bist“. Den roten Schal trägt Berkouwer noch immer.

Claudia Wermke, 37

Nein, besonders mutig sei sie damals, mit 22, nicht gewesen, sagt Claudia Wermke. „Ich wusste ja, dass sie an der ungarischen Grenze nicht mehr scharf schießen.“ Für den 28. August 1989 war der Flug nach Budapest gebucht – aber das Monate vorher beantragte Visum kam und kam nicht. Nachdem schon hunderte DDR-Bürger über Ungarn geflüchtet waren, wurden kaum noch Visa ausgestellt. Außerdem wurde Claudia Wermke wegen ihrer Kontakte zur Zionskirche von der Stasi beobachtet. Sie wundert sich heute noch, dass ihr ein Ersatzvisum ausgestellt wurde und sie trotz ihres auffällig umfangreichen Gepäcks zu der vermeintlichen Kurzreise aufbrechen durfte.

Am gleichen Abend fuhr ein Freund sie im Kofferraum versteckt zur Grenze, sie ließ sich aus dem Auto fallen und beobachtete von einem Maisfeld aus die Patrouillen der Grenzsoldaten. Sogar die Hundestaffeln zogen an ihr vorbei. In einem stillen Moment lief sie los in den Wald, ins nahe Österreich. Sie wich den Soldaten aus, trotzte Kälte und Finsternis, nur um sich am nächsten Morgen – in Ungarn wiederzufinden!

Übermüdet und verdreckt, schloss sie sich den Massen der DDR-Bürger an, „die damals ganz Budapest verstopften“. Genau erinnert sie sich an die Registrierung im Sonderlager der westdeutschen Botschaft. Über eine Woche wartete sie mit 1.600 anderen auf das Ausreisesignal. Die hundert Busse, die schließlich anrollten, beeindruckten Claudia Wermke ebenso wie die Rede Hans-Dietrich Genschers.

Claudia Wermke fuhr über Österreich nach Weinheim an der Bergstraße, ihr Fluchthelfer sollte ihr da die erste Starthilfe geben. Am meisten wunderte sie sich über „die gläsernen Bushaltestellen, die vierzig Käsesorten und die freundlich-unverbindliche Art der Leute“. Das Alleinsein in der Fremde, verbunden mit einigen Monaten Arbeitslosigkeit, war zwar nicht der Neuanfang, den sich Claudia Wermke nach der Flucht erhofft hatte, aber sie fand Arbeit und blieb – sieben Jahre. Heute lebt und arbeitet sie wieder in Berlin.

Die Wende hat Claudia Wermke im Fernsehen verfolgt. Natürlich habe sie sich gefreut, sagt sie. Aber etwas Neid auf die vielen anderen, die nichts aufgeben und riskieren mussten, habe sie doch verspürt.

JUDITH HYAMS, 28, lebt als freie Autorin in Berlin. Vom Fall der Mauer erfuhr sie in Kanada – aus der Boulevardpresse