Die Klappe endlich aufreißen

„Born Bad“, „Talkin’ Loud“, „World Music“: Das sind keine Songtitel, sondern neue Dramen aus London. Jetzt entdecken auch die Theater die „cultural diversity“ ihrer Autoren und das Erbe der Kolonialherrschaft als Kapital und Thema. Drei neue Dramatikerstimmen, die es im Ohr zu behalten gilt

Die Gutmenschen, die das Unbekannte gern romantisieren, werden kritisiert

VON ANNELI KLOSTERMEIER

Noch nie sind in London so viele neue Theaterstücke von Autoren unterschiedlichster Herkunft und Hautfarbe geschrieben und an den New Writing Bühnen Londons produziert worden wie in den letzten zwei Jahren. „Pub- und Fringe“ Theater mit nur wenigen Zuschauerreihen wie das Theater 503 in South London, aber auch etabliertere New Writing Häuser wie die Off West End Spielstätten Hampstead Theatre, Donmar Warehouse bei Covent Garden und Soho Theater entdecken plötzlich den Reichtum an Geschichten, Erfahrungen und Ansichten, die sich in einer multikulturellen Stadt wie London finden lassen. Drei besondere Talente dieses Jahres, von denen man in Zukunft sicher noch hören wird, sind Debbie Tucker Green, Trevor Williams und Steve Waters.

Die schwarze Autorin Debbie Tucker Green hat mit ihrem Stück „Born Bad“ Mut zu einer ungewöhnlichen stilistischen Form, einem unbequemen Thema und einem eigenen Slang bewiesen. „Born Bad“, Greens drittes Stück (Uraufführung im Hampstead Theatre, 2003) ist mit großer Leidenschaft und Musikalität geschrieben. Es erinnert an ein (be)rauschendes, vielstimmiges Orchesterkonzert. Die Autorin, die wegen ihres poetischen, kraftvollen Stils und der dunklen Themenwahl oft mit Sarah Kane verglichen wird, hat in „Born Bad“ den Missbrauch in einer Familie in den Mittelpunkt gestellt. Weil sie es virtuos versteht, ihrem Text einen permanenten Subtext zu unterlegen, ohne ein Wort zu viel zu benutzen, erweist sie sich dabei als eine Meisterin der Dialoge und der Reduktion.

„Born Bad“ beginnt mit der immer wieder auftauchenden, zynischen Hymne: „What a friend we have in Jesus“. Außer Stühlen ist die Bühne leer. Vater und Tochter haben eine sprachlose Szene von programmatischer Stummheit. Die folgende verbale Attacke der ältesten Tochter gegen die religiöse Mutter erinnert an ein halb gesungenes Gebet mit mantragleichen Wiederholungen. Ein Frage- und Antwortlied beginnt, in das die gesamte Familie einbezogen wird.

Wie bei einer psychotherapeutischen Familienaufstellung werden in „Born Bad“ die einzelnen Mitglieder je nach Beziehung und Spannung zueinander positioniert und nach der Vergangenheit, nach ihren Erinnerungen befragt. Welche Rolle haben die beiden jüngeren Schwestern, der Bruder, die Mutter gespielt? Ein Ringen um die Wahrheit beginnt, bei dem die Familie unterschiedlichste Ansichten, Bündnisse und Abwehrmechanismen zu erkennen gibt. Neue, schreckliche Geheimnisse kommen ans Tageslicht und überraschen den Zuschauer.

Überaus spannend ist es, wie Green es schafft, über Missbrauch zu schreiben, ohne je direkt davon zu sprechen. Besonders ist auch, dass sie das Publikum gerade an den dunkelsten Stellen noch zum Lachen bringt. Der Autorin gelingt es nämlich, das ernste Thema mit überlebensnotwendigem Galgenhumor zu versehen. Green hat nach Meinung der ehemaligen künstlerischen Leiterin des Hampstead Theatre, Jenny Topper, alle „drei Essentials“ einer neuen Dramatikerstimme: gute Ideen, eine eigene Form und den Mut, zu ihrer Intuition zu stehen.

Handwerkliches Können und eigenwilliges Talent haben Debbie Tucker Green inzwischen für „Born Bad“ den „Olivier Award for Most Promising Newcomer 2004“ eingebracht sowie eine Nominierung für den renommierten „Susan Smith Blackburn Award“. Ihre beiden ersten Stücke „Two Women“ und „Dirty Butterfly“ kamen 2003 am Soho Theatre heraus.

Auch Trevor Williams, schwarzer Erstlingsautor, schreibt wie Green mit mitreißender Leidenschaft und außerdem mit einem Rap ähnelnden Rhythmus. Sein Debüt „Talkin’ Loud“ wurde im März diesen Jahres am viel bejubelten, 2002 eröffneten Theater 503 über dem Latchmere Pub von der Kritik gefeiert. Williams, der gleichzeitig als Schauspieler arbeitet, gewann dafür gleich den „Alfred Fagon Award“, eine jährliche Auszeichnung für herausragende Dramatiker karibischer Abstammung.

„Talkin’ Loud“ ist ein Stück über junge schwarze Männer in einer Londoner Wohnsiedlung. Es beschreibt die schwierige Entwicklung eines Jugendlichen zum jungen Mann. Geht dies ohne Gewalt und eine große Klappe – eben ohne das übliche „Talkin’ Loud“? Provokant ist, wie in „Talkin’ Loud“ Vorurteile Schwarzer den eigenen Freunden sowie Weißen gegenüber beschrieben werden – und nicht wie sonst üblich umgekehrt.

Mit Vorurteilen beschäftigt sich auch der Autor Steve Waters, der als Dozent für Drama an der Cambridge Universität arbeitet. Er wagt mit seinem vierten Stück „World Music“ einen weiten Blick über den eigenen Tellerrand hinaus, auf den fernen Kontinent Afrika – eine seltene Blickrichtung, wie ihm die britischen Kulturkritiker anerkennend bescheinigen. Waters schrieb „World Music“ in Anlehnung an den Genozid in Ruanda und Burundi 1994 und 1996.

„World Music“ wurde 2003 in Sheffield uraufgeführt und dieses Jahres im Donmar Warehouse Theatre dem Londoner Publikum vorgestellt. Es provozierte bei den lokalen Zeitungen Reaktionen zwischen „keine einfache Kost“ (The Daily Telegraph) und „urgent and essential viewing“ (The Times). Ähnlich umstritten war auch schon Waters Stück „After the Gods“ (2002, Hampstead Theatre), ein Stück inspiriert von dem Fall des Philosophen Louis Althusser, der 1980 seine Frau ermordete (frei zur deutschen Erstaufführung beim Whalesongs Verlag in Hamburg). Die in „World Music“ enthaltenen Fragen reichen von einer generellen Debatte über Gut und Böse bis hin zur aktuellen Flüchtlingsdiskussion. Das Stück berührt dabei das Persönliche hinter der großen Tragödie.

Waters siedelt die Handlung in dem fiktiven afrikanischen Staat Irundi an, in dem zwischen der Muntu-Mehrheit und der Kanga-Minderheit Bürgerkrieg herrscht. Eine Figur ist der Abgeordnete des Europaparlaments in Brüssel, Geoff Fallon, der die Öffentlichkeit auf die Überlebenden dieses Krieges aufmerksam machen will. Er sieht die Politik des Westens im Allgemeinen und den belgischen Imperialismus im Speziellen als Ursache für die Zustände in Irundi. Die Handlung springt in die Vergangenheit, in der Fallon als junger, idealistischer Lehrer ein Jahr in Irundi bei einem Muntu-Bauern zubrachte. Seitdem ist er entbrannt für die Sache der Muntu. Er ist wie besessen – und schließlich wie blind – von seiner Mission, wiedergutzumachen, was Europa seiner Meinung nach verursacht hat.

Es stellt sich heraus, dass Opfer und Täter nicht klar voneinander zu unterscheiden sind: Fallons Freund, der jetzt durch seine Hilfe als politischer Flüchtling im Exil lebt, entpuppt sich als Massenmörder, genauso wie die afrikanische Asylbewerberin, mit der er ins Bett steigt. Das Fazit: „He backed the wrong horse“, wie es im englischen Feuilleton lakonisch heißt. Der Politiker macht sich, gut gemeint, zum Sprecher für die falsche Sache. Der Titel „World Music“, eine verallgemeinernde musikalische Genrebezeichnung, spielt auf die generelle Unkenntnis und die typischen Vorurteile der Europäer anderen Kulturen gegenüber an. Auch und gerade die ignoranten „Gutmenschen“, die das Unbekannte gern romantisieren, werden dabei kritisiert. Waters rührt damit an einen Minderwertigkeitskomplex der Briten, dass es ihnen als Inselbewohner an Weltläufigkeit fehle. Dazu zählt auch der Kummer über die allgemeine Unfähigkeit, andere Sprachen als die eigene zu beherrschen. Darin liegt die besondere Stärke von Waters Stück, das kein Dokumentartheater sein will, sondern „Fakten hinter den Fakten“ (Waters) aufzeigen möchte: die menschliche, tragische, komische und banale Seite der Wahrheit.

Alastair Macaulay von der Financial Times schrieb, „World Music“ habe ihm mehr über die menschliche Wahrheit der jüngeren Geschichte beigebracht, als jahrelanges Verfolgen der Nachrichten. Die Reaktion des Kritikers, der bezeichnenderweise von einer auf Wirtschaftsthemen spezialisierten Zeitung kommt, zeigt, was für eine Macht das Theater in Großbritannien hat, wenn es einen Nerv trifft. Hier ist der Nerv Englands Geschichte der Kolonialherrschaft.

Steve Waters hat bereits zwei neue Stücke geschrieben, „Black Sea“, sowie „The Unthinkable“, das von vier jungen Anhängern der New Labour Party handelt, die auf politische Abwege geraten (Uraufführung: 21. Oktober 2004 am Sheffield Theatre).

Endlich wird die „cultural diversity“, die in der Bildenden Kunst und in der Musik schon lange die Blickrichtung und die Erwartungen verändert hat, auch auf Londons Bühnen sichtbar – die unelitäre Autorenförderung der Metropole bringt nun auch Bewegung in einen ansonsten oft sehr traditionell anmutenden Betrieb. Für die Zuschauer sind die Vielzahl neuer, talentierter Dramatiker wie Debbie Tucker Green, Trevor Williams und Steve Waters eine spannende Bereicherung und Ausflug in eine andere Welt. Für die Theater aber bilden sie nicht nur eine Fundgrube wichtiger und kritischer Geschichten, sondern unterstützen sie auch in der Öffnung für ein neues Publikum.