Deutsch-deutsche Aufrechnungen

Die Finanztransfers von West nach Ost hätten wie ein riesiges keynesianisches Nachfrageprogramm wirken können, von dem alle irgendwie profitieren. Funktioniert hat es nicht: Der Aufholeffekt für die neuen Länder hält sich in Grenzen

BERLIN taz ■ Das alte Haus namens DDR war mürbe geworden, nicht nur die Farbe blätterte ab, auch mancher Grundpfeiler war morsch. Die Bewohner wussten nicht so recht: Sollten sie von Grund auf sanieren, sich einen – womöglich teuren – Denkmalschutz leisten oder dem eindringlichen Rat folgen, das alte Gemäuer ratzfatz wegzureißen? Ach was, sagten ihre Ratgeber, Experimente lohnen sich nicht. Und sie schafften Geld, Bauplan und Bauherren herbei, sprengten das alte Haus weg und setzten an dessen Stelle ein nettes Fertigteilheim, von dem es schon viele in der Stadt gab.

Auch wenn es ihnen zunächst fremd erschien – die Bewohner gaben sich alle Mühe, sich in dem neuen Haus zurechtzufinden, sie studierten die Hausordnung, hörten auf den Hauswart, schleppten neue Möbel hinein und stellten ein neues Auto in die Garage. Sie ärgerten sich nur, dass sie an dem Haus nichts umbauen durften, Durchbrüche, Unterkellerungen oder Anbauten waren nicht erlaubt. So beschränkten sich die Bewohner bald darauf, ab und zu die Tapete zu wechseln oder zu streichen.

Das ging eine Weile gut, denn Abriss und Aufbau hatten die Ratgeber vermögender gemacht. Für die Miete verlangten sie nicht viel, und sie ließen auch Geld fließen, um das Haus verschönern zu lassen. Mal wurden die Treppen breiter, dann die Fahrstühle schneller gemacht oder die Aushänge bunt gestaltet, damit die Bewohner sehen konnten, dass es keinem schlechter ging als zuvor.

Irgendwann waren die Bewohner des Nichts-tun-Könnens aber müde, einige wühlten in den Trümmern des alten Hauses oder verlangten es sogar zurück. Das erboste die Ratgeber. Sie hielten es für Undank und begannen sich ihrerseits zu ärgern. Denn inzwischen hatten sie ihr eigenes Haus vernachlässigt, ja dort wurde es ungemütlich, weil die Bewohner begonnen hatten, aus ihrem eigenen Haus aus- und ins Haus der Ratgeber einzuziehen, um auch einmal richtig schalten und walten zu können.

Künstliche „Lücke“

Seit der Wende sind 700.000 arbeitende Bewohner aus dem Gebiet der Ex-DDR in den Westen gegangen, weitere 400.000 pendeln als Arbeiter und Angestellte dorthin. Zusammen erwirtschaften sie dort jährlich ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 55 Milliarden Euro. Die Summe erscheint in der Bilanz der neuen Länder als so genannte Produktionslücke und zieht natürlich Transfers nach sich.

Der Effekt, dass der Westen vom Osten profitiert, machte sich besonders in den 90er-Jahren bemerkbar. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung schätzte Anfang 2000, dass ohne die Lieferungen in den Osten das „westdeutsche Sozialprodukt um 6 bis 7 Prozent geringer“ gewesen wäre. Umgerechnet in Arbeit und Staatseinnahmen bedeutet das: eine Million Arbeitsplätze zusätzlich und jährlich 40 Milliarden Euro mehr für die öffentlichen Haushalte. Für die Zeit von 1990 bis 2003 hätten die westdeutschen Kämmerer ohne die Einheit summa summarum 400 bis 500 Milliarden Euro weniger eingenommen. In der Relation nehmen sich die 900 Milliarden, die im selben Zeitraum schätzungsweise netto von West nach Ost transferiert wurden, schon anders aus.

Einfach sind die deutsch-deutschen Rechnungen nicht. So geben die öffentlichen Haushalte jährlich für Pensionen und Beihilfen ehemaliger Beamter rund 37 Milliarden Euro aus. Weil diese Gelder aus Rückstellungen (frühere Steuermittel) oder aktuellen Steuereinnahmen finanziert werden, ist Ostdeutschland hier entsprechend seinem Anteil am bundesweiten Steueraufkommen (rund 10 Prozent) mit 3,7 Milliarden von der Partie – obwohl praktisch noch kein Ostdeutscher sich des Lebens mit einer Beamtenpension erfreuen kann. Zum Vergleich übrigens: 4,8 Milliarden Euro geben Bund und Länder zusammen für die Sonder- und Zusatzrenten der DDR aus.

Keynes ohne Wirkung

Der Einheitsboom sowie die Solidarpakts Numero I und II stellen eigentlich das dar, was Gewerkschaften und linke Politiker stets für die Bundesrepublik fordern: ein riesiges keynesianisches Nachfrageprogramm. Da hätte doch der Aufschwung praktisch automatisch kommen müssen. Tat er aber nicht, denn die Transfers haben zwei Schwachpunkte: Knapp die Hälfte der Mittel dient sozialen Leistungen, sie wurden praktisch also „verfuttert“. Nur 13 Prozent gingen in die Infrastruktur sowie 9 Prozent in die Wirtschaftsförderung. Mit dem geringen Anteil investiver Ausgaben konnte kein selbsttragender Aufschwung entstehen. Weil aber die wirtschaftliche Basis im Osten schwach blieb, blieb auch der falsche Geldkreislauf, der Rückfluss der Transfergelder an die westdeutsche Wirtschaft, erhalten.

100 Milliarden Überschuss

Lieferüberschuss von West nach Ost bei etwa 100 Milliarden Euro. Daraus lassen sich die derzeitigen Nettotransfers von rund 83 Milliarden Euro in den Osten nicht finanzieren. Denn von den 100 Milliarden nehmen sich Unternehmen, Beschäftigte, Sozial- und Staatskassen ihren Anteil. Bekanntlich wird etwas weniger als die Hälfte des erwirtschafteten Bruttoinlandsprodukts per Steuern und Abgaben über den Staat umverteilt. Aus dem Grund muss ein Teil des West-Ost-Transfers aus Krediten bezahlt werden. Das wächst sich für den Westen auf Dauer zur Last aus. Zudem sorgte die Steuerpolitik unter Kohl und Rot-Grün für sinkende Einnahmen des Fiskus, was die Finanzierung der Einheit nicht gerade erleichterte. Stagniert dann auch noch die westdeutsche Wirtschaft wie in den letzten drei Jahren, ist es nicht schwer, die deutsche Einheit teuer zu rechnen – sie wird dann langsam teuer.

Aus der vertrackten Lage gibt es keinen Ausweg für West oder Ost allein: Zum einen müsste die Konjunktur im Westen ordentlich anspringen. Das würde nicht nur Geld in die öffentlichen Kassen spülen, sondern auch der Wirtschaft der neuen Ländern größere Absatzchancen eröffnen. Ohne Aufschwung West also kein Aufbau Ost. Zum anderen aber engen die anhaltenden Milliardentransfers die Spielräume der öffentlichen Hände und der Sozialsysteme so ein, dass das nötige Wachstum im Westen gehemmt wird. Kommt also im Osten kein Aufschwung zustande und sinkt der Transferbedarf nicht, wird es keinen (separaten) Boom im Westen geben.

Die beiden Landesteile sind inzwischen wirtschaftlich fest aneinander geschmiedet, Lösungen, die auf ein Abkoppeln hinauslaufen, können nicht funktionieren. Die Bewohner und die Ratgeber, sie leben in einer Stadt.

JÖRG STAUDE

JÖRG STAUDE (36) ist Ressortleiter beim „Neuen Deutschland“