Von Gott vergessen

Sehnsüchtiger Blick auf die Zeit vor Franco und beglückendes Leseerlebnis: Julián Ayestas „Helena oder das Meer des Sommers“

Es ist eine licht- und farbendurchflutete Oase des Glücks, voller Düfte und Erinnerungen – rot glänzenden Kirschdesserts und schwarzgelber Wespen, wandernder Sonnenflecken, glänzenden Kaffees, Thymian, Weihrauch, Jasmin, rotgrüner Algen und nasser Haare, die nach Salz riechen. Ein pastorales Tableau nostalgisch erinnerter Augenblicke, ein Buch, von dem der Autor sagt, es sei ein Roman, in dem alle unwesentlichen Kapitel weggelassen wurden. Das wären dann wohl die gewesen, die auch Handlung getragen hätten.

Doch die vermisst man in keinem Augenblick; im Gegenteil, die schlichte Konzentration des Erzählens bei gleichzeitiger Maßlosigkeit der Farbgebung macht Julián Ayestas „Helena oder das Meer des Sommers“ zu einem beglückenden Leseerlebnis. Es ist ein sehnsüchtiger Blick zurück, auf die Zeit vor Franco, verbunden mit einer Initiationsgeschichte, erzählt wie ein Augenzeugenbericht aus dem Paradies, in welchem die Personen gegen Ende durchaus auch nackt herumlaufen.

Zehn Jahre hat Ayesta nach eigenen Angaben dafür gebraucht – eine lange Zeit für einen „Kurzroman“. Das liegt aber daran, dass er sich aus einzelnen Erzählungen von unterschiedlichem Charakter zusammensetzt. Sie erschienen vereinzelt in Literaturzeitschriften der Jahre 1943 und 1947, bevor Ayesta sie 1952 zur vorliegenden Romanfassung verwob und in der Nummer VIII des erlesenen Literaturhefts Colección Insula veröffentlichte. Im Grunde sind die Prosastücke in „Helena“ eher Bilder als Erzählungen, ein klassisches Triptychon Sommer/Winter/Sommer, dessen warme Farbenglut gelegentlich aufgerissen wird von Vorwegnahmen eines Unheils, das der Eintritt ins Erwachsenenalter ebenso sein könnte wie der Beginn der Bürgerkriegs.

Schon das erste Bild, „Mittagessen im Garten“, zeichnet eine in Rosenblättern und aufgebackenen Kringeln gebettete Glückseligkeit, die brutal beendet wird von dem lachend nach hinten kippenden Priester Don José, der sich dabei einen Nagel in den Kopf rammt, den die Kinder in den mit Efeu bedeckten Stamm einer Eiche geschlagen hatten. Doch es ist der zentrale Winterteil, der besonders hervorsticht; ein innerer Monolog eines sich selbst bestrafenden Jünglings. Hin- und hergerissen zwischen der strengen katholischen Erziehung und seiner allmählich aufblühenden Manneslust kniet er betend im Halbdunkel einer Kirche und erwartet Gottes Gnade „wie eine warme Dusche“.

Doch selbst beim Gebet kann man die Gedanken nicht so schnell „aneinander fügen und festlöten“, dass die verbotenen Bilder der „wilden Frauen“ sich nicht dazwischendrängen könnten, und so trägt der junge Mann eine furchtbare Sündenlast auf seinen Schultern, und er fühlt sich alleine und von Gott vergessen – ein unbedeutender Teil der Welt, „wie ein Wurm oder ein Tisch oder eine Wolke“.

SEBASTIAN HANDKE

Julián Ayesta: „Helena oder das Meer des Sommers“. Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz. Mit einem Nachwort von Antonio Pau. C. H. Beck, München 2004, 112 S., 12,90 Euro