Konkrete Träume in Beton

Es ist eines der beeindruckendsten Städtebauprojekte des 20. Jahrhunderts: Der Schweizer Architekt Le Corbusier erschuf im indischen Chandigarh seine Vision aus Beton. Eine moderne Retortenstadt, frei von jeglicher indischen Tradition

VON EMANUEL ALLOA

„Das ist Chandigarh-System“, erklärt der junge Pandschabi die Ampelfarben an der Stadteinfahrt. „Rot: anhalten. Grün: fahren!“ Sagt’s, und sein Moped taucht im Verkehr unter. In Chandigarh, der aus dem Geist des schweizerischen Architekten Le Corbusier entsprungenen Idealstadt, läuft das vertraut Geglaubte Gefahr, in Befremdliches umzuschlagen. Kaum merklich vollzieht sich bei der Anfahrt auf die Retortenhauptstadt der Wandel: Die überlastete Straße mutiert in eine sechsspurige Autobahn. Am Straßenrand steigen die Passagiere eines interregionalen Fernbusses auf einen Kleintransporter um. Corbusiers Vorschriften entsprechend sind die inneren Achsen ausschließlich dem Lokalverkehr vorbehalten. Jeder der Sektoren zwischen den Verbindungswegen ist autark, kein Licht dringt daraus hervor. In der Dunkelheit ist die Atmosphäre gespenstisch.

Zuweilen täuscht diese Geisterstimmung darüber hinweg, dass Chandigarh aus einer sehr konkreten Notwendigkeit erwuchs: Nach der Teilung des Landes 1947 muss zum einen ein Ersatz her für Lahore, der ehemaligen Hauptstadt Pandschabs, zum anderen werden nach den blutigen Unruhen 7,5 Millionen Sikhs und Hindus aus dem heute ausschließlich muslimischen Westpandschab aufgefangen. „Es soll eine neue Stadt sein, ein Symbol Indiens, frei von vergangenen Traditionen und ein Ausdruck des Vertrauens unseres Landes in die Zukunft“, plant der frisch gewählte Präsident Nehru.

Er unterstützt die Wahl des Architekten Albert Mayer, der bereits seit geraumer Zeit in Indien ansässig ist. Der Amerikaner stimmt dem Projekt zu, sichert sich aber gleichwohl die Unterstützung seines Kollegen Matthew Nowicki, einem ausgewanderten Sibirier. Im August 1950 kommt Nowicki unerwartet in einem Flugzeugabsturz bei Kairo ums Leben. Mayer, zutiefst betroffen, weigert sich, das Projekt fortzusetzen.

Nehru entschließt sich, eine Zwei-Mann-Delegation ins Ausland zu schicken, um einen möglichen Nachfolger zu finden. Der in Frankreich lebende Le Corbusier wird von verschiedenen europäischen Kontakten empfohlen, doch noch sind die indischen Gesandten nicht völlig überzeugt von dem Kandidaten. Zu vergeistigt, zu wenig indisch sei die Herangehensweise des Architekten von der Marseiller Unité d’Habitation. Der Anthropomorphismus seiner Modelle fand hingegen durchaus Anklang bei den Indern. So wie das Kastensystem den diversen Teilen des menschlichen Körpers entspricht, so beruht Corbusiers Idealstadt auf Körperfunktionen: Gehirn (Verwaltung), Herz (öffentlicher Raum), Lungen (Grünflächen und Parks) usw. Ferner ist Charles-Edouard Jeanneret, so sein Geburtsname, ein Verfechter des Betons, der sich durch geringe Kosten auszeichnet, für tropisches Klima aber ungeeignet ist. Aus diesen verschiedenen Überlegungen überträgt die Gesandtschaft Le Corbusier den Auftrag.

In Pandschab erschafft der Schweizer so genannte Sektoren mit 800 Breiten- und 1.200 Längenmetern. Jeder der 50 Sektoren soll selbstgenügsam sein und alle alltäglichen Lebensbedürfnisse abdecken, vom Markt bis zum Tempel. Allein an vier Stellen sind die Sektoren an die Verbindungsstraßen angebunden. Endlich vermag Le Corbusier seine Sieben-Straßen-Theorie zu verwirklichen: Jedem Verkehrsweg kommt eine spezifische Rolle zu, von der interregionalen Straße bis zum Fahrradweg. Fahrzeuge und Fußgänger kommen in diesem System niemals in Berührung – eine schwierige Vorstellung für eine Kultur, in der die Straße der Raum der Öffentlichkeit par excellence ist. Am Kopfende des Schachbretts, vor dem Hintergrund des Himalaja-Vorgebirges, plant Le Corbusier massive Verwaltungsgebäude aus Beton. Zunächst die Exekutive: das „Sekretariat“ titanischer Ausmaße (254 Meter lang und 42 hoch), dessen Bild den schweizerischen 10-Franken-Schein ziert. Nach dem politischen Aufruhr der Sikh-Bevölkerung, die einen eigenen Bundesstaat fordert, wird Pandschab 1966 noch einmal unterteilt in Pandschab (Sikh) und Haryana (Hindu), wodurch Chandigarh zur Hauptstadt zweier Staaten wird. Auf dem Dach des Sekretariats stehen sich in über 40 Metern Höhe bewaffnete Soldaten gegenüber, die jeweils ihre Gebäudehälfte verteidigen. Daneben steht die Volkskammer mit dem charakteristischen, nach oben gebogenen Dach. Gegenüber liegt das bunt gesprenkelte Hohe Gericht, dessen Pfeiler die Unbestechlichkeit der Judikative symbolisieren sollen. In der Fluchtlinie auf den Himalaja erhebt sich das Emblem Chandigarhs, eine offene Hand aus Bronze, das an das Abzeichen der Kongresspartei der Gandhi-Nehru erinnert.

„Obgleich sich Le Corbusier nur wenig für indische Traditionen interessierte“, meint der Direktor der Architekturfakultät an der Pandschab-Universität Rajnish Wattas, „musste er dennoch die Verehrung der Inder auf sich ziehen. Er war ein einfacher Mann, der seiner Arbeit zuliebe alles aufopferte. Jemand, der allein auf die Verwirklichung seines Traums hinarbeitet – mochte der Traum noch so weit von unseren Vorstellungen entfernt sein“. Le Corbusier mag den Indern wie einer der zahlreichen Rishis (Heiligen) erschienen sein, die den Subkontinent bevölkern und die sich um Äußerlichkeiten nicht scheren.

Wenn Chandigarh eng mit dem Namen Le Corbusier verbunden bleiben wird, prägte indes insgeheim noch ein andere Mann dessen Antlitz: Nek Chand. Im Schatten des Kapitols begann dieser Straßeninspektor vor 40 Jahren ohne bestimmte Absicht, diverse Abfälle zu sammeln, auf die er während seiner Arbeit stieß. Jeden Abend kehrt er zu seiner Hütte am Stadtrand zurück, wo er im flackernden Licht brennender Reifen die Abfälle zu schimärischen Gestalten montiert. Aus einem raffinierten System aus Bambusröhren sowie sonderbar geformten Felsen, die er in den umliegenden Shivalik-Hügeln aufsammelte und einzeln auf seinem Fahrrad transportierte, legt er einen Lustgarten mit Fontänen und Wasserbecken an. 1973 stieß ein Planungsteam auf die heimliche Anlage. Dem Masterplan entsprechend musste jede unrechtmäßige Besetzung der Zonen niedergerissen werden – Nek Chands Felsengarten bildet keine Ausnahme. Im letzten Augenblick wendet sich Chand an den Chefarchitekten M. N. Sharma, der von Chands Werk derart fasziniert ist, dass er nicht nur den Abriss stoppt, sondern den Felsengarten in ein Freilichtmuseum verwandelt. Heute noch trifft man den Schöpfer in dem Garten an, dem er unablässig neue Welten hinzufügt. Wenn man ihn zu seiner Meinung über die imponierende Architektur Le Corbusiers befragt, sagt der bescheidene Mann lieber nichts. Dem Visionär des Betons steht der Mystiker der Felsen gegenüber: „Für mich ist das Leben hier. Jedes Detail, jeder Stein, jede Figur ist beseelt.“ Als hätte Le Corbusier vermeiden wollen, dass sein Traum in der zeitlosen Zivilisation untergeht, ließ er den Bahnhof acht Kilometer weiter nach Osten verlegen: Somit ist die Stadt aus dem größten Eisenbahnnetzwerk der Welt ausgeklinkt.

Der Felsengarten von Nek Chand liegt am nördlichen Stadtrand von Chandigarh. Info: www.nekchand.com