„Ich gucke mich jetzt ständig um“

Nach vier Jahren fragt Mehran sich immer noch, „wo eigentlich die Niederländer sind“. Sie sieht jedenfalls keine in ihrem Viertel

AUS AMSTERDAM ULRIKE HERRMANN

Sie will Mehran Hariwa heißen und ihren eigentlichen Namen geheim halten. Denn die alte Angst war sofort wieder da, als die Afghanin im Fernsehen das weiße Laken sah, das die Polizisten über die Leiche von Theo van Gogh gebreitet hatten. Erschossen von dem Islamisten Mohammed B., 26 Jahre alt, geboren und aufgewachsen in Amsterdam.

„Nun ist der Feind auch in den Niederlanden“, übersetzt Mehran diese nüchternen Fakten. „Jetzt hat der Feind auch hier sein Gesicht gezeigt.“ Dieser Feind, das ist der radikale Islam, vor dem sie schon aus Kabul floh.

„Dabei waren die Niederlande ein so schönes Land“, erinnert sie sich an eine Vergangenheit, die erst zwei Wochen her ist. „Hier war das Wort sicher.“ Endlich konnte sie als Muslimin sagen, was sie vom Islamismus hielt – nämlich gar nichts. Doch jetzt ist es für Mehran auch in den Niederlanden vorbei mit dem freien Wort. Vielleicht würde sie öffentlich noch etwas über den Koran mitteilen, wenn man sie fragte, das ist ja nicht so politisch. Aber auch nur vielleicht. Denn wer weiß. Irgendein Islamist könnte ja Anstoß nehmen. Zumal Mehran Hariwa unter Afghanen eine Berühmtheit ist.

Plötzlich erscheint es der fast 50-jährigen Akademikerin unwirklich, dass sie je vor den Taliban geflohen ist. Afghanistan hat sie eingeholt. Damit man sie nicht erkennt, soll ihr Beruf nicht näher dargestellt werden – und wo sie in den Niederlanden wohnt, auch das möchte sie in keiner Zeitung lesen. „Schreiben Sie einfach: in einem Vorort.“ Eigentlich trifft diese Beschreibung genau zu. Denn es ist egal, ob ihr Hochhaus in Amsterdam, Rotterdam, Den Haag, Amersfoort, Maastricht oder Utrecht steht. Der soziale Wohnungsbau sieht überall gleich aus.

Sie wohnt am Ende der Stadt; der Bus ist fast leer, wenn er die Haltestelle erreicht. Nur noch eine Marokkanerin steigt mit ihren beiden Zwillingen aus. Eine vierspurige Ausfallstraße schneidet durchs Viertel, dessen größte Attraktion das Einkaufszentrum ist. Hennes & Mauritz sorgt dort für Glanz, McDonald’s ist der Treffpunkt. Es gibt auch eine öffentliche Bibliothek, die gut ausgestattet ist. Holländischer Sozialbau ist monoton, aber gediegen.

Sie ist dankbar für ihre Wohnung, die vier Zimmer sind großzügig für ein Ehepaar und zwei Teenager. Das erzählt sie unten im Hausflur, denn zu Hause möchte sie sich nicht treffen, ihr Mann brauche Ruhe. Sie ist klein und kompakt. Jeans, Wollpullover, Wetterjacke. In dem nackten Neonlicht fallen nur ihre Augen auf. Sie leuchten dunkel und intensiv.

80 Wohnungen verteilen sich auf die zehn Stockwerke, und doch, sagt sie, sei es „sehr ruhig“. Man kennt sich nicht, sie weiß nur, dass hier Surinamesen, Indonesier, Türken, Afghanen, Marokkaner und Bangladescher leben. Nach vier Jahren fragt sie sich immer noch, „wo eigentlich die Niederländer sind“. Sie sieht jedenfalls keine in ihrem Viertel. Anfangs dachte sie, sie würde neben zwei Einheimischen wohnen. Aber dieser Irrtum klärte sich auf, sobald sie ein paar Sätze Niederländisch konnte. Da verstand sie, dass der eine Nachbar aus Ungarn und der andere aus Tschechien stammt. „Das ist eine sehr seltsame Politik“, findet sie, „dass man alle Ausländer in ein Viertel steckt.“ Dabei will Mehran doch Niederländerin werden! Aber wie soll das gehen, wenn sie keine treffen kann.

Auch der Einbürgerungskurs hat sie enttäuscht, den jeder Migrant durchlaufen muss. 11 Monate, vier Tage in der Woche, drei Stunden pro Tag – „da kann man doch was über die Geschichte und Kultur lernen“, hatte sie gehofft. Doch so kam es nicht. Zwar wurde Mehran in die leistungsstärkste Gruppe eingeordnet, „aber“, merkt sie süffisant an, „leider war unser Lehrer nicht der leistungsstärkste“. Penibel und fantasielos folgten sie dem Lehrbuch, in dem nur Phrasen standen: „Vandaag is mooi weer“ (Heute ist schönes Wetter).

Einmal in der Woche hatten sie auch eine Stunde „niederländische Gesellschaftskunde“. Vor allem die Benimmregeln wurden gebimmst und als Multiple-Choice-Aufgabe abgefragt.

„Wenn Sie einen Arzt aufsuchen:

Küssen Sie ihn dann?

Geben Sie ihm die Hand?

Verschränken Sie die Arme?“

Sie hat nicht rebelliert, obwohl sie sich wie ein Kleinkind fühlte. Sie sei „zu brav“ gewesen, um anzukreuzen, dass sie den Arzt küssen würde. „Schade eigentlich“, sagt sie und lacht plötzlich los. Wenn Mehran lacht, wirft sie ihren ganzen kleinen kompakten Körper nach hinten.

In ihrem Kurs waren Frauen aus Jugoslawien, Polen, Rumänien, dem Iran, Indonesien und Marokko. Man besuchte sich, grillte und klönte „in wirklich schlechtem Niederländisch“. Aber, immerhin, sie versuchten es mit der neuen Landessprache. „Nur die Marokkanerinnen kamen nie.“

Sie versteht die Marokkaner nicht, die „sich gegen alle und alles verschließen“. Auch in der Nachbarschaft blieben sie strikt für sich und hätten es geschafft, das Begegnungszentrum komplett zu okkupieren. Jeden Abend organisierten sie dort irgendeine marokkanische Veranstaltung. Alle anderen Bewohner „finden das schwierig“, erzählt Mehran.

In diesem Begegnungszentrum trafen sich kürzlich die marokkanischen Jugendlichen, um ihren Abscheu über den Mord an van Gogh zu bekunden. Die Erwachsenen taten das Gleiche nebenan in der Moschee. Diese koordinierten Distanzierungsbemühungen findet Mehran übertrieben, obwohl Mohammed B. marokkanischer Herkunft ist. „Als Pim Fortuyn ermordet wurde, musste auch nicht jeder Niederländer versichern, dass er kein radikaler Tierschützer ist.“ Wie fast alle Poldermuslime demütigt es sie, dass so viele Niederländer nicht bereit sind, zwischen den gewaltbereiten Islamisten und den vielen friedfertigen Korananhängern zu unterscheiden. So sehr sie die Muslimextremisten fürchtet, besteht sie doch darauf, dass „es nur Einzelne sind!“

Das sagt sie so laut, dass sie erschrickt. Schnell sieht sie sich um in dem einzigen Café der Nachbarschaft, das wie eine Turnhalle aussieht, in die sich ein paar Tische verirrt haben. „Finden Sie nicht auch, dass die Frau nebenan zuhört?“, fragt Mehran besorgt. Eigentlich sieht es eher so aus, als würde die Frau in einer Zeitschrift blättern. Aber Mehran hat in Afghanistan gelernt zu misstrauen, jeder kann Zuträger für die Islamisten sein. „Ich weiß, es ist völlig absurd, aber jetzt nach dem Mord gucke ich mich ständig um.“

Sie schweigt kurz und erzählt dann, dass sie in diesem Jahr zum ersten Mal während des Ramadan gefastet hat. Ihre Familie war nie streng gläubig, aber ihr 13-jähriger Sohn Zaher habe sich geschämt, nicht zu fasten. Denn fast alle seine Mitschüler tun es. Zaher geht auf eine „schwarze“ Schule, wie Niederländer es nennen, wenn Migrantenkinder unter sich bleiben. Von seinen 24 Mitschülern haben 21 entweder türkische oder marokkanische Eltern.

Inzwischen sind die Niederländer alarmiert, dass die Kinder in diesen „schwarzen“ Schulen die Landessprache nicht lernten. Doch da ist Mehran ausnahmsweise unbesorgt. „Die marokkanischen Kinder sprechen ein wunderbares Niederländisch“, hat sie festgestellt. Wie sonst hätte es ihre Tochter Laila je von einer „schwarzen“ Schule aufs Gymnasium schaffen können? Denn Mehran konnte ihr nicht helfen, dazu war ihr Niederländisch in den ersten Jahren zu schlecht – Laila hat die Sprache von den Mitschülern gelernt.

Mehran ist stolz auf ihre intelligenten Kinder, obwohl es für niemanden in der Familie leicht zu ertragen ist, dass die beiden Teenager inzwischen weit besser integriert sind als ihre Eltern. Seit drei Jahren sucht Mehran Arbeit. „Ich habe hier keinen Ort“, sagt sie deprimiert. „Ich kann nichts bedeuten.“ Erst letzte Woche hat sie einen Aushang gesehen, gesucht wurde eine Verkäuferin. Die Akademikerin hat sich beworben, „aber sie wollten ein junges Mädchen.“ Denn für Jugendliche gilt der Mindestlohn von 7,89 Euro pro Stunde nicht. Mehran hat auch schon davon gehört, dass in den Niederlanden fast Vollbeschäftigung herrschen soll. „Hier jedenfalls nicht“, sagt sie entschieden und zeigt durchs Fenster auf die monotonen Hochhausblöcke.

„Auf dem Papier“, seufzt sie, „ist man Niederländer. Aber in Wirklichkeit bleibt man ein Allochthon.“ Also ein Zugewanderter. Dagegen stehen die „Autochthonen“, wie die Eingeborenen sich selbst nennen. Schon bisher hat es Mehran geärgert, dass man jeden Tag mehrere Artikel über die Integrationsschwierigkeiten der „Allochthonen“ lesen konnte. Nun, nach dem Mord an van Gogh und den vielen Anschlägen, fürchtet sie, „dass sich die Autochthonen noch stärker abgrenzen“.

Auch da fühlt sie sich manchmal an Afghanistan erinnert. Zum Beispiel, wenn die rechtsliberale Regierungspartei VVD hartnäckig darüber nachdenkt, ob man das Kopftuch nicht ganz verbieten sollte. „Die sind wie die Taliban“, staunt Mehran, „nur andersherum. In Afghanistan musste man das Kopftuch tragen, hier soll man es nicht dürfen.“ Und wie fast alle Muslime nimmt sie sehr genau wahr, dass immer nur das Kopftuch ein Problem darstellen soll, „aber niemand redet über den Turban der Sikhs“. Sie selbst trägt kein Kopftuch – „bloß nicht!“.

Sie ist froh, dass das Fasten endlich zu Ende ist. Zum Abschluss des Ramadan wird bis morgen das Zuckerfest gefeiert. Bleibt es ruhig? Da lacht sie wieder mit ihrem ganzen Körper. Sie hat zwar Angst, aber eine blöde Frage kann sie trotzdem amüsieren: „Das ist doch keine diplomatische Auseinandersetzung zwischen zwei Königen, die sich gegenseitig Kriegserklärungen schicken!“. Dann wird sie wieder ernst. „Es passiert immer unerwartet“, sagt sie gepresst, „das ist doch das Unerträgliche.“