sozialkunde
: Ein Unterschied zwischen Europa und den USA: Inflation und Deflation im Medium der Macht

In den USA wird auf fundamentalistische Weise ernst genommen, dass politische Macht nur durch Androhungvon Gewalt gedeckt ist

Zur Medientheorie von Talcott Parsons gehörte es, sich vorstellen zu können, dass nicht nur das Medium Geld, sondern auch die anderen sozialen Erfolgsmedien, also zum Beispiel die Macht, der Glauben, die Liebe, die Kunst und Wahrheit, Inflationen und Deflationen kennen. Was bekäme man zu sehen, wenn man mit dieser Idee die Situation der Weltpolitik nach der Wiederwahl von George W. Bush analysiert?

Zunächst einmal: Im Fall des Geldes bedeutet Inflation steigende Preise, also vermehrter Medieneinsatz, und bedeutet Deflation sinkende Preise, also verminderter Medieneinsatz, für eine bestimmte Warenmenge. Verallgemeinert bedeutet dies, dass man bei Inflation immer mehr und bei Deflation immer weniger Medieneinheiten aufwenden muss, um einen Motivationserfolg zu erzielen.

Die Postmoderne war ein Zeitalter der Medieninflation. Heute jedoch leben wir fast allerorten in einem Zeitalter der Mediendeflation. Die Fundamentalismen, mit denen wir es gegenwärtig allerorten zu tun haben, sind in erster Linie schon fast verzweifelte Versuche, die Werthaftigkeit von Medien neu zu begründen, die die Postmoderne fast ruiniert hat. Man beschwört den wahren Glauben, nimmt die Wissenschaft zurück auf unbezweifelbare Wahrheiten, lässt in der Kunst nur noch die Leuchttürme gelten und glaubt der Liebe entweder gar nicht oder nur noch dann, wenn sie mit Selbstaufgabe einhergeht. Der Irrtum dieser Fundamentalismen, die die Gesellschaft immer enger werden lassen, liegt darin, dass sie durch diese Maßnahmen die Deflation nur verstärken, denn man merkt ihnen an, dass sie kein Vertrauen in ihr jeweiliges Medium haben, sondern den Motivationserfolg durch Einsicht in eine Notwendigkeit herstellen wollen, die es gar nicht gibt.

Vermutlich leben wir jedoch politisch in Europa immer noch in einer Epoche der Inflation. Unglaublich viel politische Macht, ablesbar am hohen Anteil des vom Staat verteilten Steueraufkommens am Bruttosozialprodukt und ablesbar an Reformen, die die Bürokratie, die Gesetzeslage, die Regulierungsdichte verringern sollen, faktisch jedoch vergrößern, wird aufgewandt, um immer weniger zu erreichen.

Ganz anders die USA. Hier wird auf eine denkbar fundamentalistische Art und Weise wieder ernst genommen, dass politische Macht medial nur durch die glaubhafte Androhung von Gewalt gedeckt ist, eine Einsicht, die in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg auf allen Ebenen der veröffentlichten Meinung erfolgreich verdrängt wurde. Wir glauben stattdessen, dass Politik immer dann möglich ist, wenn vernunftbegabte Wesen zustimmen können.

Die Amerikaner haben anlässlich der Produktion einer radikalen Differenz durch den Terror von al-Qaida wiederentdecken müssen, dass politische Ordnung nur dort möglich ist, wo die Androhung von Gewalt dazu eingesetzt werden kann, Angreifer von innen oder außen abzuschrecken. Allerdings mussten sie gleich im Anschluss auch das zweite Grundgesetz der Politik wieder am eigenen Leibe erleben, nämlich die Tatsache, dass die Macht dort schon wieder verloren ist, wo die Gewalt nicht nur angedroht wird, sondern tatsächlich eingesetzt werden muss. Macht hat der, der sich darauf beschränken kann, den Knüppel zu zeigen. Wer mit ihm zuschlägt, verliert nur bei denen nicht seine Macht, die sich davon wiederum beeindrucken lassen.

Die Amerikaner haben George W. Bush wiedergewählt, weil sie sich von seiner Konzentration auf das Machtproblem der Politik einen Wiederaufbau des Drohpotenzials der Politik versprechen, das es dann eines Tages erlaubt, auf den tatsächlichen Einsatz von Gewalt auch wieder zu verzichten. Die Bush-Administration jedoch glaubt zwar an die Gewalt, nicht jedoch an die Politik. Sie traut ihr nichts zu, sondern glaubt stattdessen, dass wirtschaftliche Interessen in Tateinheit mit religiöser Selbstgerechtigkeit die Welt bereits hinreichend ordnen. Das hat sie mit ihrem Gegner al-Qaida gemein. Aber dem können die Europäer nur gegensteuern, wenn sie den Motivationserfolg von Politik wieder auf das in der Drohung mit Gewalt gedeckte Medium der Macht zurückführen.

Der Wirtschaft hat die Politik die Notenbanken verordnet, die Deflationen und Inflationen gegensteuern. Welche Institution könnte sie sich selbst verordnen, um vor zu großem und vor zu geringem Vertrauen in die Politik zu warnen? DIRK BAECKER

Der Autor, Soziologe in Witten/Herdecke, schreibt an dieser Stelle regelmäßig über soziologische Themen – immer am dritten Dienstag eines Monats