Was ist Ihre Utopie?

UMFRAGE Klimakriege! Geschlechterkampf! Konsumkritik! Was ist dran am Gerede? Wir haben nachgefragt, was in den Köpfen ist

„Meine Vision ist: Der Löwe und das Lamm liegen nebeneinander und fressen sich nicht“

Hans Otto Reiber, 69, Neurobiologe: „Politiker machen häufig den Fehler, Rentner ausschließlich als Versorgungsproblem zu sehen. Ich denke aber, man sollte das Alter vielmehr als bewusst integrierten Teil des Lebens betrachten, in dem man sich noch viele Wünsche und Hoffnungen erfüllen kann – und noch einiges mehr. Meine persönliche Utopie ist es, fit zu sterben. Dafür treibe ich Sport, arbeite als Wissenschaftler in Havanna und schalte mich immer noch regelmäßig in Forschungsdebatten ein.“

Julia Gotzmann, 24, Studentin: „Eine Utopie ist etwas, was einfach nicht funktionieren kann – so wie der Sozialismus. Ich glaube nicht, dass eine ideale Welt machbar ist, denn während meiner Politik- und Philosophievorlesungen ist mir klargeworden, dass alle Ideologien zu kopfbetont sind. Karl Marx ging es beispielsweise nur um die Grundbedürfnisse der Menschen, während die sinnlichen Wünsche zu kurz kamen. Aber jeder sehnt sich doch nach Liebe oder Anerkennung und hat auch dunkle Triebe in sich. Deswegen trete ich auch in einer Clown-Gruppe auf: Als Clown darf ich alles, auch mal jemandem fies gegen das Schienbein treten – nur im Spaß natürlich. Aber auch mit Humor kann man das Leben der Menschen verbessern.“

Karim El-Gawhary, 45, Nahost-Korrespondent der taz: „Frieden. Viele Deutsche wissen ihn nicht richtig zu schätzen, aber in Nahost scheint der Wunsch danach oft utopisch. Militante Organisationen und Selbstmordanschläge im Irak, Libanon oder in Gaza sind nur Symptome. Doch die eigentlichen Probleme liegen viel tiefer. Ich versuche in meinen Artikeln so zu schreiben, dass die Leser in Deutschland verstehen, warum einige Menschen dort so denken und handeln. Erst wenn dies im Bewusstsein ist, kann auch nachhaltig etwas verändert werden.“

Petra Griesser, 32, Fotografin: „Ein Leben ohne Utopie bedeutet Stillstand. Ich persönlich habe sehr viele Utopien, zum Beispiel die tatsächliche Gleichwertigkeit der Geschlechter. Ich arbeitete selbst als Pädagogin in einem Frauenhaus, für ein feministisches Archiv über die Frauenbewegung in Tirol. Aber es kommt nicht nur auf das praktische Handeln an: Manchmal ergibt zu viel Realitätssinn keinen Sinn. Wir sollten es daher wagen, zu träumen und an diese Träume zu glauben.“

Dolly Conto-Obregón, 49, Projektleiterin des Casa Latinoamericana: „Die Erfahrungen, die man weltweit sammelt, stimmen einen nachdenklich, wenn man sieht, in wie vielen Ländern noch ungleiche Lebensstandards herrschen. Natürlich können wir heute noch eine ganze Menge verändern, weil wir noch nicht zu viele sind: Sieben Milliarden Menschen kann man mit den vorhandenen Ressourcen ein menschenwürdiges Leben bieten! Wenn jeder persönlich etwas weniger konsumiert, hilft er auch im Kleinen, dass andere Länder einen besseren Lebensstandard erreichen können. Diese Vermittlung von Solidarität gegenüber Schwächeren und Ärmeren sollte auch in der Erziehung unserer Kinder wieder stärker verankert werden.“

José Garcia, 47, Mitarbeiter der GEPA – The fair trade company: „Das Schöne und Gute kann man auch in den kleinen Dingen finden, in Büchern oder in Geschichten. Auch meinen Kindern versuche ich den Wert des einfachen Lebens ohne viel Klimbim beizubringen. Es ist doch so: Jenseits von materiellem Besitz kann man viel von anderen Menschen lernen. Meine Idee einer Utopie geht in diese Richtung: mich irgendwann einmal an einem schönen Ort mit ganz wenig Besitz zur Ruhe zu setzen.“

Olaf Forner, 47, engagierter Zeitungsverkäufer: „Menschen sollten bereit sein, für Qualität wieder Geld zu bezahlen und nicht immer alles geschenkt bekommen zu wollen. Man muss den Leuten klarmachen, dass hinter Wertvollem immer auch Arbeit steckt. Dieses Denken versuche ich den Menschen klar und deutlich zu vermitteln. Nur wenn die LeserInnen bereit sind, das Leben der Schreiber zu finanzieren, kann die Unabhängigkeit der Medien tatsächlich gewährleistet werden. Wenn alles ausschließlich durch Werbung finanziert wird, ist das nicht mehr der Fall. Und dann nützt es auch über- haupt nichts, wenn die Tageszeitung vergleichsweise wenig kostet.“

Jochen Stay, 43, Bewegungsarbeiter und Aktivist: „Ich verfolge eher kleinteilige politische Ziele, um handlungsfähig zu bleiben. Entscheidend ist immer, wie man gewisse Dinge angeht und wie man mit anderen Menschen umgeht. Mit der „Ich kann ja eh nix machen“-Einstellung vieler Menschen kann ich nicht viel anfangen. Jeder kann und sollte seinen Teil zu einer besseren Welt beitragen. Der jüngeren Generation kann ich nur empfehlen: Findet einen eigenen Weg, geht aufs Ganze! Traut euch, dicke Bretter zu bohren! Die Zeit für neue Utopien ist gekommen.“

Stefan Planck, 35, Musikmanager: „Utopie ist möglich! Ich möchte das weltweite Copyright abschaffen, denn Ideen bauen nun einmal aufeinander auf. Sie können unter Kopierschutz nicht weiterentwickelt werden. Die Welt wäre beispielsweise eine andere, wenn es keine Patente auf Aids-Medikamenten gäbe. Es ist sehr wichtig, in Forschung zu investieren und UrheberInnen zu unterstützen. Aber es muss sich auch lohnen, kreativ zu sein. Angehenden UtopistInnen kann ich nur empfehlen: Verschließt euch nicht vor neuen Ideen, sondern seid offen! Es muss nicht immer so sein, wie es einst war.“

Babett Herschenröder, 62, Friedensaktivistin für Israel/Palästina: „Ausreichend revolutionärer Elan, Vorstellungskraft, viel Mut, nötiger Pragmatismus, Realitätssinn, Traum, Kühnheit, Wildheit und Poesie. Das sind die Zutaten, um Utopia wahr werden zu lassen. Ich persönlich lebe noch den alten anarchistischen Traum: Keine Macht für niemand. Eine Gesellschaft ohne Hierarchie, keinen Kapitalismus, keinen Realsozialismus. Ich denke an eine Gesellschaft mit freien, verrückten, poetischen Menschen, die sich und andere immer wieder hinterfragen. Wichtig ist, nie die Zartheit, nie die Weichheit zu verlieren, denn das geht schnell, wenn man eine harte Linke ist. Darum mein Appell: Verliert nie den Glauben an den Wandel, an Revolution. Eine andere Welt kann gemeinsam möglich werden!“

Jörn Alexander, 35, Betreuer des Projekts bewegung.taz.de: „Ich finde überall ein bisschen Utopie und bastele mir daraus dann meine ganz persönliche Version. Ich konsumiere so wenig wie möglich. In meinem Kaffeebecher ist zum Beispiel der Rest meines Apfels. Er funktioniert gerade als Mülleimer. Den Apfel werde ich in der Natur entsorgen, wo dann neue Pflanzen daraus wachsen können. Und dann trinke ich wieder aus dem Becher. Man kann eine Utopie gestalten und im Kleinen leben, wenngleich das Mut erfordert. Man muss Sachen manchmal einfach machen!“

Barbara Kerneck, 61, Journalistin und Autorin: „Utopie ist die Projektion der eigenen Wünsche in eine zukünftige Realität – wenn der Löwe und das Lamm nebeneinander liegen und sich nicht fressen. Ich schreibe und versuche zu erfahren, was hinter den Fassaden passiert, was die Politik bewegt. Wenn sich äußerlich alles glatt ineinanderfügt, aber man hat dabei ein schlechtes Gefühl, sollte man diesem Gefühl nachgehen.“

Lisa Ulbricht, 18, Abiturientin: „Ich würde gerne etwas Künstlerisches studieren und andere von meiner Kunst begeistern, so dass ich davon leben kann. Dabei will mich in keinster Weise unterdrückt oder eingeengt fühlen. Utopie beinhaltet stets Freiheit: Jeder Mensch sollte machen können, was er will, ohne den Zwängen der Gesellschaft folgen zu müssen. Ob man dieses Ziel dann erreicht, ist eine ganz andere Frage. Häufig ist es doch so, dass eine Utopie von Wunschdenken geprägt ist.“

Barbara Häusler, 52, Lektorin und Übersetzerin: „Eine Utopie muss sich nicht erfüllen, trotzdem bleibt man doch irgendwie dabei. Sozusagen ergebnisunabhängig und ergebnisoffen. Es ist zudem eine Frage des Alters und hat viel mit einer gesunden Naivität zu tun. Im Laufe meines Lebens stellte sich bei mir ein Realitätsgefühl ein. Ich bin darüber nicht wütend – ganz im Gegenteil. Realität ist eigentlich etwas Angenehmes. Heute habe ich viele kleine Wünsche: Eine Art von Normalität zu erreichen, leben können, arbeiten können, meinen Frieden finden. Ich könnte jedoch keine Utopie formulieren, die ich vor mir selbst vertreten kann.“

Annette Eckert, 63, taz-Mitbegründerin: „Utopie heißt für mich, als sanfter Kämpfer die Unendlichkeit nicht aus dem Auge zu lassen, aber auch den Alltag zu leben und zu realisieren. Für mich bedeutet das: sich nicht unterkriegen zu lassen. Diese Einstellung hatte ich schon damals, als ich aus der taz entlassen wurde. In meinem neuen Beruf kann ich heute mein eigenes Konzept einer feministischen Kulturredaktion umsetzten. Dort gelten Unabhängigkeit, Unvoreingenommenheit, Freundlichkeit sowie Großzügigkeit im Alltag und im Berufsleben.“

Peter Müller, 25, Politikwissenschaftler: „Ich habe im Schnelldurchlauf die politische Entwicklung der Bundesrepublik miterlebt: Angefangen bei K-Gruppeneltern, über bürgerbewegte Achtzigerjahre hin zu einer gewissen Etabliertheit. Heute bin ich mit der Gegenwart ziemlich zufrieden. Ich fühle mich wohl in dieser Gesellschaft, die grundsätzlich eine gute Entwicklung gemacht hat – und hoffentlich weiterhin machen wird. Utopie ist dabei grundsätzlich kein schlechter Begriff. Aber in meiner Situation würde ich eher von einer Kontinuitätshoffnung sprechen als von einer Utopie.“

UMFRAGE: TIMO KRAMER, FELIX LÜTTGE, SARAH ALBERTI, PHILIP HÄFNER, ALEXANDER KOHN, JASMIN KALARICKAL, ALEXANDER RIEDEL, ANNE JENTSCH, ANNE-CHRISTINE LENZ