und sonst?
: Holland ist nicht Deutschland

Die Niederlande sind seit Mitte des 20. Jahrhunderts ein Einwanderungsland. Zunächst zogen Indonesier, Surinamer und Antillianer aus den ehemaligen Kolonien zu, später so genannte Gastarbeiter vor allem aus der Türkei und Marokko. Politisch korrekt nannte man all diese Gruppen „Neuankömmlinge“ oder „Allochthone“ und nicht Ausländer. Der Erhalt von Aufenthaltserlaubnis oder Staatsbürgerschaft verlief unbürokratisch. Selbst illegal Eingereiste konnten sich sozial versichern und unter Umständen später legalisieren lassen.

Heute ist jeder Zehnte der 15 Millionen Einwohner „allochthon“ – in Großstädten 40 Prozent. An den Grundschulen in Amsterdam und Rotterdam stellen Einwandererkinder die Mehrheit. 900.000 Muslime leben in dem Land. Die meisten sind Türken und Marokkaner. Es gibt islamische Altersheime, Krankenhäuser, Schächtereien und Rundfunkprogramme, außerdem 42 islamische Grundschulen und eine Universität. Weil Gleichheit ein hohes Gut ist, ließ man Muslime beim Aufbau ihrer Strukturen nicht nur gewähren, sondern unterstützte sie nach Kräften. In der Auswahl der Partner war die Regierung großzügig: Die in Deutschland vom Verfassungsschutz beobachtete türkische Milli Görus wurde ebenso eingeladen wie umstrittene marokkanische Moscheevereine.

Dahinter steckt aber nicht nur die viel zitierte niederländische Toleranz, sondern ein einzigartiges Gesellschaftsmodell: Das Prinzip der „Versäulung“ ermöglichte überhaupt erst das friedliche Zusammenleben von Calvinisten und Katholiken. Ab den 20er-Jahren organisierten sie ihr Leben in weitgehend autonomen Säulen – bis sie über getrennte Kindergärten, Schulen, Unis, Rundfunk, Schwimmbäder und Schachvereine verfügten. In der Nachkriegszeit konnte man groß werden, ohne je Angehörige einer anderen Religion gesprochen zu haben. Die Überreste der Versäulung machten es Muslimen leicht, Ansätze einer eigenen Säule zu errichten. Kommunikation findet in diesem Modell vor allem zwischen Eliten statt, die in einer separierten Welt Kompromisse suchen – das ist die niederländische Konsensdemokratie.

Die Trennung der Religionen macht aber noch einen Unterschied zu Deutschland deutlich: Die Niederlande sind ein zutiefst religiöses Land. In einer Umgebung, in der jede Thronrede mit einem Gebet endet und „Gott sei mit uns“ in jede Münze graviert war, schien es selbstverständlich, auch anderen das Recht auf Präsenz einzuräumen. Auch Auseinandersetzungen zwischen Protestanten und Katholiken, zwischen Christen, Muslimen und Juden waren immer an der Tagesordnung.

Die Gewalt hat seit dem Mord an Theo van Gogh eine neue Dimension erreicht. Der Diskurs, aber auch die Politik gegenüber Zuwanderern haben sich schon seit den späten 90ern grundlegend gewandelt. Vor allem das Auftauchen des Rechtspopulisten Pim Fortuyn markierte das Ende einer Gesellschaft, in der um jeden Preis mit allen und jedem ein Kompromiss gefunden werden musste. Fortuyn ignorierte die Regeln politischer (Über-)Korrektheit, mit denen die Niederländer sich nicht zuletzt von den gern als Rassisten beschimpften Deutschen abgrenzen – und sprach aus, was viele dachten, aber sich nie zu sagen getraut hatten: Dass auch holländische Toleranz ihre Grenzen hat. Und dass Einwanderer, die sich nicht an die Spielregeln halten, nicht willkommen sind. JEANNETTE GODDAR