Land ohne Vergangenheit

Ausgerechnet der ermordete Politiker Pim Fortuyn wurde zum „größten Niederländer aller Zeiten“ gewählt. Es ist die Antwort einer verunsicherten Nation auf die Gretchenfrage: „Wer sind wir?“

AUS AMSTERDAM ULRIKE HERMANN

Die niederländischen Historiker sind entsetzt: „Im Ausland lachen sie sich tot!“ Seit Monaten wird „der größte Niederländer aller Zeiten“ gesucht, am Montagabend fand das Fernsehfinale statt. Und der Gewinner ist: Pim Fortuyn. Damit lag der ermordete Politiker sogar noch vor dem Staatsgründer Willem van Oranje, dem „Vater des Vaterlandes“, dessen Monument in fast jeder Stadt steht und der im 16. Jahrhundert den Widerstand gegen die Spanier organisierte.

Hunderttausende Niederländer beteiligten sich; 4.000 Stimmen Vorsprung hatte Fortuyn am Ende – diesen knappen Sieg verdankt er vor allem den Frauen. Sie setzten „Pimmetje“ konstant auf Platz 1, während er bei Männern nur Rang 2 einnahm.

Seit Mitte Oktober konnten die Niederländer telefonisch oder per Internet ihr Votum abgeben. Anfangs war der Wettstreit noch als ein heiteres Spiel zur nationalen Selbstverständigung gedacht, doch dann wurde am 2. November der Filmemacher Theo van Gogh von einem Islamisten ermordet. Seither, so der Moderator im Fernsehfinale, „beschäftigt uns alle die Frage: Wer sind wir?“

Anscheinend haben die meisten Niederländer diese Frage längst für sich beantwortet. „Das Stimmverhalten hat sich durch den Mord an van Gogh nicht verändert“, stellten die Veranstalter überrascht fest. Fortuyn führte vor dem 2. November – und er führte danach.

Die Anwärter auf den Titel des „größten Niederländers“ mussten in den Kategorien Führungsstärke, Nachwirkung, Mut, Mitmenschlichkeit und Genialität glänzen. Nirgendwo lag Fortuyn ganz vorn. Noch nicht mal seine Anhänger wollten behaupten, dass er so genial wie Rembrandt oder so einfühlsam wie Anne Frank war. Aber er schnitt in allen Kategorien überdurchschnittlich ab. Der Effekt ist aus dem „Grandprix Eurovision“ bekannt: Auch bei dem Schlagerwettbewerb gewinnt nie das Lied, das gelegentlich mal eine 12 von wohlmeinenden Nachbarstaaten abräumt.

Obwohl der Sieg von Fortuyn absehbar war, ist er den Veranstaltern nun peinlich. Selbst sein „Anwalt“ konnte sich nach dem Sieg nicht recht zu einer Laudatio entschließen. „Wenn Fortuyn gewinnt,“ sagte der Journalist Yoeri Albrecht, „dann zeigt das, dass in diesem Land wirklich etwas schief läuft.“ Als Beispiel zitierte er den neuesten Aufreger: Wann genau hat die Polizei den Justizminister Donner nun davon in Kenntnis gesetzt, was in dem Drohbrief stand, den der Mörder auf der Leiche von Theo van Gogh hinterlassen hatte? Ein oder zwei Tage nach dem Mord? Dass es dieses Detail überhaupt zum Skandal bringen kann zeigt, wie niedrig die Erregungsschwelle in den Niederlanden inzwischen liegt.

„Die Zuschauer interessieren sich eben kein bisschen für die Vergangenheit“, seufzen die Historiker. Sie hätten für den Philosophen Erasmus gestimmt, wie eine Umfrage im Historisch Nieuwsblad ergab. Nun trösten sie sich, dass auch in Deutschland und Großbritannien absurde Entscheidungen getroffen wurden: Wie konnte es etwa Lady Di auf einen dritten Platz schaffen, dieses „hysterische, ziemlich dumme Mädchen“? Auch über Konrad Adenauer, den Sieger einer hierzulande vom ZDF veranstalteten Umfrage gleichen Typs, ließe sich trefflich streiten.

In den letzten Wochen wurde jedoch nicht nur der „größte Niederländer“ gesucht. Parallel gab es auch den Wettstreit um den „schlimmsten Niederländer“, den die eher rechte Wochenzeitschrift HP/De Tijd organisiert. Der Titelträger wird heute bekannt gegeben. Es wäre überraschend, wenn nicht Volkert van der Graaf gewinnen würde – er ist der Mörder von Pim Fortuyn.