Tod und Ekstase

BRASILIEN TANZT Hier hat jeder das Recht, anders zu sein: „move berlim“ zeigt zum 4. Mal brasilianischen Tanz im HAU. Die Choreografien nutzen alles, Behinderungen, Rausch und Karneval, und den Blick von außen

Die Brasilianer unter den Zuschauern im HAU kommentieren, schimpfen und reagieren auf die Künstler

VON ASTRID HACKEL

Die Entdeckung großer Erdölvorkommen hat in der brasilianischen Hafenstadt Macaé vor fünfunddreißig Jahren einen wirtschaftlichen Boom ausgelöst. Neben einem rasanten Anwachsen der Bevölkerung brachte er eine Verschärfung der sozialen Ungleichheit. Vor allem Kinder und Jugendliche aus der Peripherie Macaés sind davon betroffen, einige finden auf der Suche nach einer sinnvollen Freizeitgestaltung den Weg ins Zentrum für Hiphop-Studien CIEM.h2. Mit ihnen ist die Geschichte Macaés jetzt auf das Tanzfestival „move berlim“ ins Berliner Hebbeltheater gekommen.

Der Leiter dieses ungewöhnlichen Projekts Paulo Azevedo ist Politik- und Erziehungswissenschaftler, Sportpädagoge und Choreograf. Bei CIEM.h2 hat jeder das Recht, anders zu sein. Jugendliche mit und ohne Behinderung sollen in diesen Räumen ihren Körper spielerisch entdecken und behaupten lernen. Im Idealfall über die Grenzen der Einrichtung hinaus, denn tanzende Jungen haben es nach wie vor schwer gegenüber Eltern, die sich den gängigen Rollenbildern entsprechende Söhne wünschen.

In Azevedos Choreografie „Procedimentos de um Pseudópodo“, die am Wochenende im HAU gezeigt wurde, entwickeln an unsichtbaren Fäden gezogene Rollstühle ein eindrucksvolles Eigenleben. Ein Tänzer demontiert einen von ihnen und eignet ihn sich so auf überraschende Weise an. Das fantasievolle Zusammenspiel der Körper und Objekte erzeugt in der kurzweiligen Bewegungsstudie kraftvolle, sprechende Bilder. Dabei wird schnell klar, dass es auf jeden Einzelnen ankommt. Gegen eine Politik der Integration, die von der Unterlegenheit des anderen ausgehen muss, um ihn integrieren zu können, vertritt das CIEM.h2 einen progressiveren Ansatz: Anzuerkennen, dass jeder seinen individuellen Platz hat, ist Ausgang für die gemeinsame Erarbeitung der Choreografien.

Wo und wie Geschichte, wann und wo zeitgenössischer Tanz beginnt und wie er sich zur Tradition verhält – das sind Fragen, die in dem von Wagner Carvalho und Björn Schlüter vor sechs Jahren ins Leben gerufenen Festivals „move berlim“ fest verankert sind. So diskutierten in der begleitenden Vortragsreihe Christianne Galdino und Roberta Ramos die Schwierigkeiten, zwischen traditionellen und zeitgenössischen Elementen zu unterscheiden, denn eine solche Einteilung geht bereits von falschen Voraussetzungen aus: Tanz ist niemals nur das eine oder andere. Sobald der populäre Tanz von der Straße auf die Bühne geholt wird, verändert er sich. Solange aber an „einst“ und „heute“ noch als Gegensätzen festgehalten wird, können zeitgenössische Tanzsprachen nicht adäquat verstanden werden.

Der Titel des Vortrags „Tanz heute – auf den Spuren der Tradition“ könnte auch als Motto für Marcelo Evelins „Bull Dancing“ gelten, mit dem „move berlim“ eröffnet wurde. Während „Procedimentos“ von der sozialen Realität Macaés ausgeht, nutzt Evelin einen alten, auch in seiner Heimatstadt Teresina praktizierten brasilianischen Brauch, das Bumba-meu-boi, als Material. Kern des karnevalähnlichen Volksfestes ist die rituelle Tötung eines Ochsen – begleitet von treibenden Rhythmen und kollektiver Ekstase.

Dass Evelin zwanzig Jahre in Amsterdam gelebt hat, sieht er als Vorteil, denn es hilft, die lokale kulturelle Tradition von außen, hier aus einem explizit europäischen Blickwinkel, zu betrachten. Obwohl einige der Compagniemitglieder wie er aus dem Nordosten Brasiliens kommen, wollte Evelin kein selbstbezogenes Stadtteiltheater machen. Ihn interessierte, wie jemand, der zum ersten Mal Zeuge des Bumba-meu-boi wird, das Ritual erlebt, etwa die slowakische Tänzerin Monika Haasova. Während die anderen schon selbstvergessen in ihre Schrittfolgen vertieft sind, betritt sie mit einer harlekinartigen Maske als Letzte die Bühne und wendet sich unsicher dem Publikum zu. In unterschiedlicher Intensität nimmt sie dann am Geschehen teil, taucht ein, verliert sich – aber lässt auch immer wieder die Distanz der nicht eingeweihten Fremden sichtbar werden.

„Bull dancing“ ist wegen der künstlerisch-formalen, aber auch spielerisch-ironischen Brechungen kein folkloristisches Stück. Nah am Material bezieht es seine Wirkung aus der Musik und dynamischen Theater- und Tanzelementen. Ungewohnt ist für den nichtbrasilianischen Teil des Publikums die Kommunikation zwischen KünstlerInnen und Zuschauenden: Während artige Berliner Theaterroutiniers selbst bei unmittelbar an sie gerichteten Fragen eisern schweigen, nehmen die brasilianischen Gäste aktiv am Geschehen teil: Sie kommentieren, schimpfen, reagieren. Der Zuschauerraum ist hier keine vierte Wand, sondern Teil des Ereignisses.

move berlim. Bis 26. April in den HAU-Theatern