montagskolumne: meinhard rohr zur lage der nation im spiegel seines wissens
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Neulich kaufte ich mir, einfach mal so, ein Jackett und eine Hose, dazu klassisch schwarze Halbschuhe und noch zwei schöne blaue Hemden mit dünnen weißen Streifen. Als ich mich zu Hause im Spiegel meines Wissens betrachtete, sah ich plötzlich aus wie ein Kriegstreiber, Karrierist und Kapitalistenknecht. Ich riss mir sofort die Maske vom Gesicht, hinter der der gute, alte Meinhard zum Vorschein kam, mit seinem strahlenden Ich, seinem internalisierten altlinken Über-Ich – und mit Mutti. Ja, ich sah meine Mutter, die mich ankleidete, anzog und anpries. 1968, als ich leider zu den Linken gehörte, trug ich dann lange, fettige und verfilzte Haare, und ich hatte ein schlechtes Gewissen. Wenn Mutti mich sehen könnte, dachte ich oft nachts vor dem Schlafengehen, mit den Händen auf der Bettdecke. Doch „die Wandlung ist der Kern der Generation Zaunkönig“, wie Johann Christoph Klopstock sagte. So bin ich heute proper, akkurat und sauber gekleidet und fühle mich unter der Bettdecke meiner lauwarmen Gedanken wohl.

Diese Kolumne erscheint in loser, aber leider häufiger Folge.