Flirten mit dem Klassenkampf

Ist der solidarische Gedanke veraltet? Wenn sich streikende Studierende mit anderen Initiativen treffen, geht es schnell ums Grundsätzliche. Aber Vernetzung ist Trumpf in Zeiten allumfassender Kürzungen. Wie Protestler zarte Bande knüpfen

VON GRIT EGGERICHS

„Es geht darum, Menschen hinter den Zahlen zu sehen und sich nicht gegenseitig den schwarzen Peter zuzuschieben“, erklärt Laura Goerke, Grundschulpädagogik-Studentin an der Humboldt-Universität (HU), zwischen Kiefernholzregalen mit Bastelmaterial und Montessori-Spielzeug. Sie hat zusammen mit ihrer AG „Soziale Realität: Andocken“ potenzielle Verbündete zu einem Runden Tisch eingeladen. Und so sitzen jetzt 30 Menschen in der Grundschulwerkstatt. Die meisten: Studierende.

Peter Storck ist kein Student. Er arbeitet bei der AG „Leben mit Obdachlosen“, einem Zusammenschluss von 40 Obdachloseninitiativen. Dass die BVG das Sozialticket abschaffen will, ist sein drängendstes Thema. „Ich finde es gut, beim Protest gegen Sozial- und Bildungskürzungen nicht verschiedene Interessen gegeneinander auszuspielen“, sagt er. Deswegen ist er hier. Und weil er Goerke aus seiner Kirchengemeinde kennt.

Dass es kein Sozialticket mehr geben soll, belastet auch Reinhard Niermann vom Nachsorgeprojekt für ehemalige Drogensüchtige „Initiative 89“. Viele der Betroffenen haben Bewährungsstrafen, „und wer da beim Schwarzfahren erwischt wird, ist superschnell weg“, erklärt er. Niermann ist auch Student und hat die Einladung am schwarzen Brett gesehen. „Endlich mal jemand, der erkennt, dass die Kürzungen nicht nur Unis betreffen“, fand er. Und kam.

Die AG „Soziale Realität: Andocken“ gibt es erst seit letzter Woche. Laura Goerke befürchtet starke Einschränkungen in ihrem Studiengang Grundschulpädagogik. „Wir machen jetzt schon Seminare mit 70 Leuten in Hörsälen, anstatt hier praxisnah und mit 30 Leuten zu arbeiten.“ Die Grundschulwerkstatt, wo sie sonst kreativen Unterricht üben, haben die Studierenden heute besetzt. Mit Hilfe von Peter Sonnenburg, Dozent, im Besitz eines Schlüssels und solidarisch mit den Streikenden.

Zu Beginn sollte es darum gehen, sich mit den von Kürzungen stark betroffenen Erzieherinnen zu solidarisieren. Von denen ist aber keine da. „Da die Kitas nun doch neues Personal einstellen dürfen, gibt es wohl keinen vordringlichen Bedarf mehr“, erklärt Anke Mai von einer Elterninitiative.

Auch die AG „Vernetzung“ der HU hat am Sonntagabend zu einem Treffen geladen. Etwa 150 Menschen kamen, darunter auch Vertreter des Landeselternausschusses der Kitas, der Friedensbewegung und der Initiative Berliner Bankenskandal. Aus Solidarität mit den Streikenden hielt der Landeselternausschuss seine letzte Sitzung tags darauf in der HU ab.

Michael Hammerbacher vom Berliner Sozialforum hat die Veranstaltung mit Studierenden organisiert. Er sieht in der Zusammenarbeit die Chance für eine breite Protestbewegung gegen die vorgesehenen Kürzungen. „Die Aufrufe, sich zu verbünden, finden mehr als ein breites Echo“, sagt er. Der Austausch sei rege. Jetzt müsse man es schaffen, dass sich die Proteste im Januar, wenn der Haushalt im Abgeordnetenhaus verhandelt werde, „zuspitzen“. Hammerbacher ist da zuversichtlich: „Uns alle eint , dass wir diesen Haushalt ablehnen und wir eine Umverteilung von oben nach unten fordern.“

Als Auftaktveranstaltung für einen heißen Januar sieht Hammerbacher die für den 13. Dezember geplante Demo mit allen Bündnispartnern. Den größten Teil der Menschenmenge wird dabei wohl die Studierendenschaft ausmachen.

Laura Goerke bietet ihren Gästen aus der Arbeits- und Vereinswelt an, die „Mobilisierungsarbeit“ zur Großdemo zu übernehmen: „Weil ihr ja wahrscheinlich in eure 38-Stunden-Woche eingebunden seid, würden wir das für euch machen.“ Da schwingt süße Solidarität mit fremden Lebenssituationen mit. Einige Studierende grinsen verlegen. Der klassenkämpferische Unterton scheint einer anderen Zeit zu entstammen. Die Annäherung an das Proletariat haben angehende Akademiker auch in den Siebzigerjahren probiert. Joschka Fischer ging in die Produktion. Bewegte Frauen solidarisierten sich mit Arbeiterinnen. Vielleicht hat die Annäherung der Milieus in Zeiten der Patchworkidentität bessere Chancen als vor dreißig Jahren?

Im inspirierenden Ambiente der Grundschulwerkstatt wird jetzt Grundsätzliches diskutiert. „Ist der solidarische Gedanke veraltet?“, fragt Goerke in die Runde. „Die Verteilungsschere geht immer mehr auseinander – das ist Fakt, seit die Globalisierung voranschreitet“, bemerkt ein älterer Student im karierten Hemd, der sich schwer mit seinen streikenden KommilitonInnen identifizieren kann: „Ich könnte von vielen ja schon der Vater sein.“ Neben seinem Studium der Erwachsenenpädagogik führt er ein kleines Taxiunternehmen. Er kritisiert, dass sich „die großen Konzerne ihrer gesellschaftlichen Aufgabe entziehen, indem sie keine Steuern zahlen“. Die Mittelständler seien es, die den Staat stützten.

Eine junge Studentin traut sich was: „Viele nutzen das soziale System aber auch aus.“ Stöhnen, Blicke zur Decke. Sofort melden sich mehrere Studenten. Goerke notiert die Namen auf der Rednerliste. „Das Problem ist ja nicht, dass Einzelne schmarotzen, sondern dass der Wahnsinn in unserer Gesellschaft Methode hat“, sagt einer. „Das ist jetzt hoffentlich klar geworden.“

Peter Sonnenburg, der Dozent mit dem Schlüssel, versucht sich in Besonnenheit. Die Proteste seien eine Chance, endlich Grundsatzdiskussionen in Gang zu bringen. Und schließlich brauche man sich nicht zu wundern: „Die Politiker haben wir ja selbst gewählt.“ In der Diskussion läuft einiges durcheinander. Gemeinsame Nenner für gemeinsamen Widerstand lassen sich schwer finden. „Ich kenn’ mich aus mit Gremienarbeit“, erklärt Reinhard Niermann von der Initiative 89 später. „So hab’ ich mir das vorgestellt.“

Das erste Ergebnis der Bündnisarbeit im kleineren Rahmen ist ein Flugblatt: gegen Einsparungen in den Kitas, gegen die Abschaffung des Sozialtickets, für Jugendförderung und Drogenarbeit. Das hätte man erst mal unter einen Hut gebracht. „Ich hoffe, dass es ein bisschen den Horizont erweitert hat“, sagt Laura zum Abschied.