Der ganz normale Wahnsinn

Mit der „Traumnovelle“ nach Arthur Schnitzler hat sich in Meiningen der neue Chefregisseur Sebastian Baumgarten vorgestellt. Eine berühmte Theaterstadt im Umbruch. Nirgendwo sonst ist das Verhältnis zwischen Stadt und Theater so wichtig wie hier

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Oh, das gibt noch Krach. Ehekrach, reihenweise. Tapfer klatschen die Frauen in Reihe 12 des klassizistischen Meininger Theaters und schicken keinen Blick zu ihren Gatten, die eben, während die Orgie der Geheimgesellschaft in der „Traumnovelle“ nach Arthur Schnitzler tobte, unruhig mit den Füßen scharrten und das Haus verlassen wollten. Jetzt steht erbittertes Schweigen gegen demonstrative Begeisterung für die erste Inszenierung des neuen Chefregisseurs Sebastian Baumgarten. Theater, das nimmt man in Meiningen sehr persönlich.

Die Bühne (von Thilo Reuther) steht voller kleiner Fertiglauben, deren Dachkante den Darstellern mal gerade bis zur Hüfte reicht. So weiß man gleich, dass die wohlgeordnete Welt zu klein ist für ihr Wünschen und Begehren. Die „Traumnovelle“, ein Stoff aus dem Zeitalter der Erfindung der Psychoanalyse, hat Sebastian Baumgarten nicht feinversponnen inszeniert, sondern als Kleinstadtparabel, als tiefer Blick in Verschwörungsnetze, Albträume und das schlummernde Gewaltpotenzial hinter der geordneten Fassade. Träume, Erinnerungen und Fantasien zerstören in einer einzigen Nacht das ganze Kleinstadtgefüge.

Es ist der Sex, die Vorstellung von Untreue, von Sadismus, von der Entkoppelung der körperlichen Befriedigung von allen moralischen Verbindlichkeiten, der in der „Traumnovelle“ als Revolte durchgespielt wird. Erzählt wird das als die Geschichte der Ehe von Fridolin und Albertine, in der sich beide nach dem Schock verzehren, dem alles Bisherige umstürzenden Erlebens – aber nur, um in dieser Bedrohung die Bedeutung der Liebe zu steigern und ihrem Bündnis einen existenziellen Grund zu geben. Ein Hunger nach Größe und Bedeutung will gestillt werden: weil er keinen anderen Schauplatz hat als das Private und Intime, geht es sehr verletzend zu. Damit skizzierte Schnitzler, als er die „Traumnovelle“ 1927 vollendete, auch eine Atmosphäre der Gier nach dem Umsturz, die sich aber nicht auf öffentliche Orte wie Politik oder Ökonomie wagte. Dieser Zustand der Agonie, der umso dunklere Blüten hervortreibt, je enger er sich an die Wände des Privaten presst, interessiert Sebastian Baumgarten.

Das Ambiente einer kleinen Stadt, deren Bild noch ganz von Markt und Schloss geprägt ist, verleiht Baumgartens Inszenierung einen besonders schrägen Kontext. „Die Realität speist einen täglich. Und das findet sich im Ergebnis wieder“, meint der Regisseur, der viereinhalb Wochen Zeit zu proben hatte. Nicht eben viel für ein so elegant verschachteltes Gefüge, das mit gut gehaltener Spannung zwischen verschiedenen Ebenen der Realität und der Imagination hin- und hergleitet.

Ob in der Ratsstube, im Henneberger Haus oder im Sächsischen Hof: Überall, wo man in Meiningen nach der Theaterpremiere noch etwas essen kann, kommt die Rede irgendwann auf das Stück. Denn das Theater bedeutet viel für die kleine Stadt (23.000 Einwohner). Nicht nur wegen der über 400 Arbeitsplätze, nicht nur wegen der Geschichte vom theaterverliebten Herzog Georg, der das Meininger Theater in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts berühmt und zum Modell vieler Ensembles machte, sondern weil man von dieser Geschichte weiterzehren muss. Das Theater in Meiningen ist Anziehungspunkt einer ganzen Region. 143.000 Besucher kamen in der letzten Spielzeit, über 60 Prozent aus Franken und Hessen. Ritterfest, Dampfloktage und Hexensymposien und andere Attraktionen im Programm der thüringischen Stadt können das nicht aufwiegen. „Die ökonomische Wichtigkeit des Theaters gibt einen wahnsinnigen Druck. So etwas gibt es in keiner anderen Stadt“, sagt Res Bosshart, Intendant seit 2002. „Das zwingt zur Konturierung“, meint Baumgarten.

Res Bosshart war zuletzt künstlerischer Leiter auf Kampnagel in Hamburg (1994–2001), wo immer genreübergreifend geplant und ohne eigenes Ensemble gearbeitet werden musste. Sebastian Baumgarten hat sich einen Namen als ungewöhnlicher Opernregisseur gemacht: der Musik verpflichtet, aber kaum ihrer herkömmlichen Bebilderung. In Kassel war er drei Jahre lang Oberspielleiter. Beide sind nach Meiningen gekommen, weil sie gerade diese Situation gereizt hat: mit einem festen Ensemble darauf zu reagieren, welche Themen eine Region und eine Stadt bewegen. Mit größerer Feineinstellung zu arbeiten. Theater als eine Kunst zu begreifen, die schon immer vor Ort stattfand und prädestiniert ist wie kein zweites Medium für das Konzept der Kunst in situ, die durchlässig sein will für den sozialen Rahmen ihrer Entstehung. „Stadttheater“, der Begriff ist zum Schimpfwort verkommen, um epigonale und leicht zu kopierende Regiestile zu geißeln. „Stadttheater“ als Utopie aber wäre wieder eine Kunst, die genauer mitdenkt, für wen und warum sie entsteht.

Doch schwerer, als sie erwartet haben, lastet auf den beiden Theatermachern die ökonomische Krise. Es gilt, bei einem festgeschriebenen Etat Tarifsteigerungen auszugleichen: In zwei Jahren hat Res Bosshart sechs Finanzierungskonzepte geschrieben, die teils auf den Wunsch der Fusion mit Eisenach eingingen, teils Spartenschließungen und Stellenabbau erwogen. Alle sind bisher am Widerstand der Politik gescheitert, die nichts aufgeben will und damit keinen Bewegungsspielraum zulässt.

Wohl auch als Folge dieser ökonomischen Hypothek bekommen die neuen Meininger ein Misstrauen von denen zu spüren, die sich als Stammpublikum – „vierzig Jahre Anrecht auf ein Abonnement und jetzt das“ – als die Repräsentanten Meiningens begreifen. Muss denn alles modern werden? Wo bleibt der Glanz?, lauten die latenten Vorwürfe, als wäre „modern oder nicht modern“ bloß eine Frage des Geschmacks.

Dass es dabei um Haltungen geht, um größere Nähe zum Eigenen gar, um Prozesse der Selbstfindung, kommt nur langsam an. Denn als modern wird hier eher akzeptiert, was existenzialistisch oder abstrakt aussieht, eben wie die verfemte Moderne in der DDR-Zeit. Besteht man dagegen auf Gegenwart, auf das konkrete Detail, auf den Blick aufs Reale, dann, meint Sebastian Baumgarten, wachsen die Widerstände.

Das Programm beinhaltet deshalb viele Projekte der Vermittlung: zum Beispiel eine Videoinstallation von Sven Mundt, der siebzig Meininger interviewt hat. Viele Schritte gelten auch der Moderation innerhalb des Theaters, neue Ensemblekräfte einzuführen. Inszenierte Führungen durch das Haus, Lounge-Abende, Talkrunden – das ganze Instrumentarium der Kommunikationsstiftung wird ausgepackt.

Für die Spielzeit- und Programmhefte hat die Fotografin Brigitte Maria Meyer eine Serie entworfen, die romantische Theaterprospekte aus dem Theatermuseum Meiningen mit Paarmotiven zu einer neuen, fast biblischen Geschichte verbindet; von einer Vertreibung, wenn nicht aus dem Paradies, dann doch aus einer idealisierten Kunstlandschaft und von der Ankunft in der Gegenwart von Plattenbauten: „Kain und Abel“ kämpfen davor. Damit wird die Theatervergangenheit Meiningens, bis zuletzt geliebt für Shakespeare- und Wagner-Reichtum, zwar nicht abgeschrieben, aber doch zurückgeschrumpft auf einen Status als Zitat und idealisierte Ferne. So weit aus der Welt fallen lassen will das neue Team die Theaterstadt hinter den sieben Bergen nicht.