Auch Jungen wollen tanzen

Ausgerechnet mit Tanzkursen, Gesprächsrunden und autogenem Training begegnet die Laborschule Bielefeld den Defiziten des männlichen Nachwuchs. Bei den Teenies sind die Kurse ein Renner

In den ersten Stunden wären die Jungen am liebsten vor Scham in den Boden versunken

AUS BIELEFELD CARSTEN BIERMANN

Noch nicht alle haben die Scheu abgelegt. Einige Arme baumeln schlaff am Körper, als wollten sie dem Takt der Musik nicht folgen. Fußball spielen sind Jungen gewohnt, – aber Tanzen? In dem“Jungenkurs“an der Bielefelder Laborschule nähern sich 14- bis 16-Jährige diesem untypischen Sport.

Und doch lassen sich die Jungen freiwillig auf das Experiment ein. Sie hätten auch Gärtnern, Kochen oder Berufsorientierung wählen können. Aber ausgerechnet der Jungenkurs gilt unter den Schülern der Jahrgangsstufen 8 bis 10 als Renner, fast immer muss das Los über die Plätze entscheiden. Massimo (16) ist zum zweiten Mal dabei, er findet es „klasse, endlich einmal nur unter Jungen sein zu können“. Während es sonst als Maxime gilt, Jungen und Mädchen in allen Fächern gemeinsam zu unterrichten, hat die Schule auf ein ausgemachtes Defizit reagiert. Lange Zeit stand nur die Benachteiligung von Mädchen im Fokus, nach Untersuchungen im Sportunterricht erkannte die Laborschule auch die Kehrseite: Jungen mangelt es an sozialer Kompetenz. Jeder will der Stärkste sein, selbst das Tor schießen. Dass auch ein Querpass, die Integration der Mitspieler, Sinn macht, soll der Jungenkurs lehren. „Gemeinsam mit Mädchen wäre das fast undenkbar“, sagt Wolfgang Seidensticker, der das Konzept mitentwickelt hat. In dem geschützten Raum müsse sich keiner als „Gockel“ präsentieren.

Beim Tanzen betreten alle Neuland, auch ein noch so tolles Trikot schindet keinen Eindruck. Eher komisch sieht es aus, wenn jemand im Dress von Bayern mit dem Hintern wackelt. „Das kostet schon Überwindung“, sagt Sportlehrer Gunnar Uffmann. Als Mitschülerinnen und -schüler kichernd zuguckten, wären seine Schützlinge in den ersten Stunden am liebsten vor Scham in den Boden versunken. Ein paar Einheiten später fordert Uffmann sie auf, mit dem Gesicht Richtung Publikum ihre Choreographie vorzuführen. „Den Applaus empfinden sie als Bestätigung“, sagt Uffmann.

Ein ähnliches Ziel verfolgt die Tanzeinheit vor dem Spiegel. „Das sieht nicht so gut aus“, sagt Yannick, mit 14 der Jüngste im Kurs, „aber es macht Spaß.“ In weiteren Übungen stoßen die Jungen immer wieder an ihre Grenzen. So hat Uffmann sie ins Rhönrad steigen lassen, eine gemeinsame Kanutour ist geplant. Auch autogenes Training oder progressive Muskelentspannung zählen zu möglichen Inhalten.

Mit dem Jungen- und als Pendant eingerichteten Mädchenkurs hört die geschlechtsspezifische Förderung an der Laborschule nicht auf. Im Klassenverbund werden getrennte Gesprächskreise gebildet. Mädchen reden über Mädchenprobleme, Jungen über Jungenprobleme. Liebe, Partnerschaft und Sexualität, es sind oft die gleichen Themen. Während es Mädchen für gewöhnlich leicht fällt, sich darüber auszutauschen, öffnen sich im intimen Kreis auch die Jungen. „Sie erfahren Solidarität von den anderen“, sagt Seidensticker, „und reden daher über ihre Gefühle“. Als Erfolg der Jungenförderung reklamiert die Laborschule für sich, dass wesentlich weniger Konflikte mit Gewalt gelöst werden.

Auf die schulischen Leistungen hat das Programm keinen Einfluss. Wie die PISA-Studie offenbarte, sind auch an der Laborschule Jungen in Fächern wie Deutsch und Mathematik den Mädchen unterlegen. In Zusammenarbeit mit der Bielefelder Universität wird gerade ein Modell erarbeitet, wie Jungen auch diese Defizite abbauen können.