Teufels Buchhalter

Nett und schräg: Der bahnbrechende Linguist und kauzige Anarcholibertäre Noam Chomsky wird heute 75 Jahre alt

Für David Remnick, den Chefredakteur des New Yorker, ist er schlicht „Einstein“, für seinen Fachkollegen Neil Smith der „Galileo“ der Linguistik: Noam Chomsky, der renommierte Sprachwissenschafter am Bostoner „Massachusetts Institute for Technology“ (MIT), der wohl aber noch berühmter als für seine linguistischen Revolutionen für die Zweitberufung ist, die ihn nicht loslässt: die radikale Kritik an der Hegemonialpolitik Amerikas, die beißende Anklage gegen Marktlogik, Imperialismus und was sonst noch böse ist in der Welt. Heute wird der Titan, der „wichtigste lebende Intellektuelle unserer Zeit“ (New York Times), 75 Jahre alt. Chapeau!

Besucher, die es in seine mit Büchern und Papieren voll gestopfte Kammer im MIT schaffen, wollen es meist gar nicht glauben: Dieser scheue, grauhaarige Alte mit der unauffälligen Metallbrille soll Chomsky, der bissige Formulierer, sein, der Menschenfischer, der eine strenge Schule radikaler Linguisten um sich scharte, der manische Chronist aller Ungerechtigkeiten? Der seiten- und stundenlang aufzählen kann, addieren kann, wie viele Tote diese und jene US-Administration auf ihrem Konto hat, so dass der Philosoph Avishai Margalit ihn mit dem schönen Attribut belegte, Chomsky sei „der Buchhalter des Teufels“?

Begonnen hat er als linker Zionist, der sich in Richtung eines sozialistischen Binationalismus bewegte, kurzzeitig hat er sogar in Israel in einem Kibbuz gearbeitet und Hebräisch unterrichtet. Zurück in Amerika, begann er am MIT und wurde schon mit seinem ersten Buch auf einem Schlag berühmt: „Syntactic Structures“, erschienen 1957. Das Buch wurde das Gründungsdokument einer ganzen Denkschule. Grundidee von Chomskys strukturaler Linguistik ist, kurz gesagt, dass grammatische Universalprinzipien allen Sprachen zugrunde liegen, die schon in die Gehirne von Babys eingeschrieben sind – als Hardware gewissermaßen. Damit hat Chomsky die vielleicht letzte Großtheorie der Moderne aufgestellt, die nicht nur die Erforschung der Sprache revolutionieren, sondern in letzter Konsequenz den Schlüssel, den Ursprung allen Wissens finden wollte.

Wie bei allen großen Revolutionen der Wissenschaft liegt in dem gewiss etwas Exzentrisches, wie Chomsky selbst sich mit seinem beginnenden politischen Engagement in den Sechzigerjahren zunächst Schritt um Schritt, dann immer mehr vom Mainstream entfernte. Doch paradoxerweise wächst sein geistiger Einfluss, je mehr er mit diesem über Kreuz liegt. Jüngst widmete ihm der New Yorker eine Zehn-Seiten-Story, und Chomskys Bücher sind längst auch hierzulande Renner: Seine aktuellen Texte wie „The Attack“, „Der neue militärische Humanismus“, „Profit over People“ werden von den Verlagen fast schon im Vierteljahresrhythmus auf den Markt gebracht und in hohen Türmen in den Buchläden gestapelt, so reißend ist der Absatz.

Da wird die Marktideologie verrissen, die Menschenrechtsrhetorik als raffinierte Imperialistenideologie entlarvt und die Großmachtpropaganda gegen ihre Urheber gerichtet: „Die USA sind ein Schurkenstaat“, meint Chomsky. Auch Europas Politik sei „ganz schrecklich“. Und: „Die Medien betrügen vorsätzlich.“ Dagegen hat noch Michael Moore einen wachen Sinn für Ambivalenzen. So sind die Bilder, die Chomsky malt, auch vielen wohlmeinenden Linken ein bisschen zu viel Schwarzweiß.

Dabei ist er durchaus ein Mann der Aporien. Er kann über die USA vom Leder ziehen und dann einräumen, „ich wüsste kein anderes Land, in dem die freie Meinungsäußerung so geschützt und gewahrt würde wie hier“. Er hasst die Regierung der USA, weil er jede Regierung hasst. Er ist ein anarchischer Libertärer, auf etwas kauzige Art, aber doch auf eine Weise, wie sie in der US-amerikanischen Nationalkultur, mit ihrem Freiheitspathos aus der Siedlerzeit, stark verwurzelt ist. Tausende freundliche Anfragen bekommt er aus aller Welt, und viele beantwortet er, was manchmal peinlich endet: Eine fand sich als Vorwort zu einem Buch eines französischen Holocaust-Leugners. Als der Skandal hochging, erwies er sich abermals als radikaler Libertärer: Man müsse auch die „Satanischen Verse“ weder kennen noch gutheißen, um für einen Schriftsteller wie Salman Rushdie Partei zu ergreifen, so Chomskys Replik.

Wahrscheinlich sitzt tief in Chomsky drin wohl so ein Alpha-Male-Gen, sonst hätte er es weder in der Wissenschaft noch in Polit-Dingen geschafft, eine solch verschworene Glaubensgemeinde zu sammeln. Dabei ist er bei Gott kein Volksredner, keiner, der die Massen elektrisieren und auf die Barrikaden treiben könnte. Sondern ein netter, schräger Professor, der sagt, was er sich eben so denkt. ROBERT MISIK