Populärer Anachronismus

SNOOKER Die Weltmeisterschaft zieht wieder einmal Millionen Menschen vor die Fernsehgeräte. Dabei bietet das Schach auf dem Billardtisch weder Show noch Spektakel

Snooker: Seit 1989 überträgt Eurosport Snooker. In einem internen Ranking für das Jahr 2008 rangiert die Billardvariante in der Zuschauergunst auf Platz vier. Nur Olympia in Peking, Wintersport und Gewichtheben sind höher platziert. Der Sportspartenkanal veranstaltet inzwischen sogar eigene Events. Die 2008 gestartete „World Series of Snooker“ tourt mit den besten Profis abseits der offiziellen Tour durch Europa. Der Showkampf in Berlin lockte im März 2.500 Zuschauer ins ausverkaufte Tempodrom. (taz)

VON PHILIPP STACHELSKY

Fehler reihte sich an Fehler. Es sind leichte Fehler, die Kopfschütteln auslösen im Crucible Theatre von Sheffield. Der Titelverteidiger ist ausgeschieden. Ronnie O’Sullivan hat gegen den Nordiren Mark Allen den Einzug ins Viertelfinale der Snooker-WM verpasst. Mit 11:13 verlor der dreimalige Champion sein Achtelfinale vor Millionen von Fernsehzuschauern.

Das Spiel mit den kleinen Kugeln auf dem 6,34 Quadratmeter großen Tisch ist ein Quotenhit. Laut Eurosport, dem übertragenden Sender, verfolgten seit 2005 pro Saison konstant 23 Millionen verschiedene Deutsche die Snooker-Übertragungen, allein das letztjährige WM-Endspiel zwischen O’Sullivan und Ali Carter sahen fast zwei Millionen Zuschauer. Snooker ist ein Zuschauermagnet.

„Beim Snooker gibt es kein Blut, keinen Schweiß und keine Tränen“, sagt Rolf Kalb. Kalb kommentiert seit nunmehr zwei Jahrzehnten für Eurosport. Nicht nur eingefleischten Fans gilt er als Snooker-Papst. Für Kalb, der selbst einen ruhigen Kommentarstil pflegt, resultiert der Haupterfolgsgrund der „hochansteckenden Krankheit“ Snooker vor allem im Anderssein: „Das TV-Produkt mutet an wie ein Anachronismus zu den Erwartungen der Zuschauer an klassische Sportübertragungen, das macht neugierig.“ In der Tat: Die Protagonisten taugen nur in Ausnahmefällen als Abbilder moderner Gladiatoren, emotionale Ausbrüche lässt der Hochleistungskonzentrationssport nicht zu.

Die Duelle am grünen Tisch werden auch nicht krampfhaft zu Kämpfen zwischen zwei Persönlichkeiten hochstilisiert. Dennoch identifiziere sich das Publikum mit den Spielern, meint Kalb. „Bei keiner anderen Sportart kann man den Sportlern so detailliert ins Gesicht und in die Augen schauen.“ Nahaufnahmen der Spielergesichter zeigen ein kurzes Zucken oder eine Geste der Verärgerung nach einem Fehlschuss. Die Fernsehbilder reduzieren sich auf die Vogelperspektive des Tisches, Zeitlupen werden nur sporadisch angeboten – Snooker benötigt keine kosmetischen Eingriffe.

„Beim Snooker gibt es kein Blut, keinen Schweiß und keine Tränen“

Rolf Kalb, Snooker-Papst

Der fortgeschrittene Betrachter erkennt: „Jeder Ball ist ein kleines Drama für sich“, sagt Thomas Hein, der für Snooker zuständige Sportwart der Deutschen Billard Union (DBU) und Kalbs Co-Kommentator. Die sonst für Sportübertragungen typische dynamische Kamerafahrt und hektische Bildführung sucht man vergebens und vermisst sie auch nicht – das Spiel an sich muss reichen, um den geneigten Betrachter in seinen Bann zu ziehen. „Zwei ordentlich angezogene Spieler, das beruhigende grüne Tuch, das intelligente Spiel – Snooker bietet den Menschen eine Auszeit vom so hektischen Alltag“, schwärmt Hein weiter.

Doch bis Snooker den Sprung von der Fernsehcouch hin zur wirklich aktiv betriebenen Massensportart schafft, ist es noch ein weiter Weg. Denn das, was den Sport unter anderem so faszinierend macht, steht ihm gleichzeitig im Weg: Er ist nur schwer zu erlernen. Dem Anfänger scheint es unergründlich, wie man die kleinen Kunststoffbälle so präzise über den riesigen Tisch in die abgerundeten Tascheneinläufe platzieren kann und dabei auch noch die Positionen der anderen Bälle im Auge behalten soll.

Daher will die DBU in Zukunft ihre Angebote zur Anfängerschulung erweitern. Die Zahl der öffentlich zugänglichen Tische hat sich seit 2001 schon auf 1.400 verdreifacht. Noch fehlt der deutschen Snookerszene jedoch ein Star, die besten nationalen Größen im britisch dominierten Sport müssen schon froh sein, wenn sie – abseits der TV-Kameras – in der Qualifikation zu größeren Tunieren ausscheiden dürfen. Kaum vorstellbar, wie sich die Quoten entwickeln würden, wenn eines Tages ein deutscher Spieler mitmischen dürfte im Hauptfeld einer Weltmeisterschaft.