Kondom? Lieber nicht …

Für die meisten Heterosexuellen in Deutschland ist Aids kein Thema mehr. Trotz steigender Infektionszahlen sinkt das Bewusstsein für Safer Sex. Man will schließlich nicht unromantisch sein

VON JUDITH HYAMS

„Leben! Lieben! Schutz vor HIV!“ steht auf dem goldbraunen Faltblatt, darunter die sehr positiv strahlenden Gesichter der Schirmherrinnen Hannelore Elsner, Bärbel Schäfer und Pop-Sängerin Sandy. Die diesjährige Kampagne zum Weltaidstag richtet sich besonders an Frauen und Mädchen und damit an gut die Hälfte der weltweit 40 Millionen HIV-Infizierten. In Deutschland sind „nur“ etwa ein Fünftel Frauen, und vielleicht braucht es deshalb gleich drei weibliche Gesichter, um in Erinnerung zu rufen, dass das Virus auch hierzulande weitergetragen wird. Und zwar nicht nur auf ominösen schwulen Bareback-Partys oder im Fixermilieu.

Seit fast zwanzig Jahren schon begleiten bunte Verhüterli-Werbungen, raffinierte Safer-Sex-Spots und wahllos herumliegende Aufklärungsbroschüren den Großteil der geschlechtlich aktiven Deutschen. Die Botschaft, dass es jeden treffen kann, ist damit so alltäglich, dass sie schon wieder verdrängt scheint: Seit 2003 haben HIV-Neuinfektionen zugenommen – während das Schutzverhalten insgesamt, im Falle der Heteros besonders bei „Extremsituationen wie Urlaubsreisen oder One-night-stands“ eher abnimmt.

Seltsame Verdrängung

Vorbote dieses besorgniserregenden Trends ist seit einigen Jahren die Zunahme fast vergessener Geschlechtskrankheiten wie Syphilis oder Tripper. „Aids ist schon seit einigen Jahren kein Thema mehr“, sagt Marita Völker-Albert von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, die sich vor allem an die breite Bevölkerung richtet. Ein möglicher Grund hierfür sind ihrer Ansicht nach die von einst 25 Millionen auf nunmehr 9 Millionen Euro gekürzten Mittel für die erfolgreiche Kampagne „Gib Aids keine Chance“. Tatsächlich aber sind es auch die Macht der Gewohnheit und der Glaube an die Medizin, die Aids zum Unthema machen. „Die Angst steht nicht mehr an erster Stelle, der Tod ist in der Diskussion in den Hintergrund geraten“, sagt die Frauenreferentin der Deutschen Aids-Hilfe, Joyce Dreezens-Fuhrke. Und da diese Horrorvisionen der Achtziger ebenso wenig wie der einst befürchtete Atomkrieg eingetreten sind, ist bei einem Großteil der heterosexuellen Deutschen nicht nur Gelassenheit, sondern auch ein seltsamer Hang zur Verdrängung spürbar.

Das betrifft einerseits die ganz Jungen, die sich besser an die Sars-Welle mit ihren Mundschutz tragenden Asiaten erinnern als etwa an die Bilder eines dahinsiechenden Freddy Mercury, und die farbige Kondome mit Erdbeergeschmack höchstens noch zur Schwangerschaftsverhütung benutzen. Die 19-jährige Abiturientin Anne, die ihren Nachnamen lieber nicht nennen will, drückt es so aus: „Aids? Da denk ich an Afrika.“ In ihrer Altersklasse sei das kein Thema, auch empfinde sie etwa die düsteren Kino-Spots zur Missbrauchs-Prävention eindrücklicher als die Aids-Aufklärung: „Die ist doch nur funny und bunt, nicht erschütternd.“

Bemüht poppige Spots

Während in den Achtzigerjahren manchem Kinogänger der Film durch einen zuvor geschalteten HIV-Spot verleidet wurde, wirken die Spots auf heutige Besucher wie eine der bemüht poppigen GEZ-Werbungen: Man grinst gequält und erinnert sich kurz an eine Pflicht, der man dann doch meist nicht nachkommt.

Umso erstaunlicher, dass auch Heteros, deren Sexualität zu Hochzeiten der Aids-Panik geprägt wurde, zunehmend leichtsinnig werden. „Unter Heteros ist das doch gar nicht präsent“, sagt etwa der 40-jährige Marlon – auch er will seinen Nachnamen nicht in der Zeitung lesen –, der bei seinen verschiedenen Abenteuern nie ein Kondom benutzt. Auch eigentlich Vorsichtige verzichten oft auf das Gummi, sei es aus Romantik, sei es, um im Bett nicht hysterisch oder misstrauisch zu wirken.

Viele Heteros sehen das HI-Virus ambivalent: Man weiß zwar, dass es jeden treffen kann, aber man glaubt, dass es immer nur die anderen trifft. Die anderen sind übliche Verdächtige wie Schwule, Prostituierte, Drogenabhängige und Migranten. So existiert Aids in der Hetero-Wahrnehmung zwar durchaus, scheint aber wieder wie ganz zu Anfang eher ein Problem der „Risikogruppen“ zu sein. War die Angst vor Ansteckung zeitweise so groß, dass man nicht mehr aus einem Glas trinken wollte, und schien das Virus plötzlich ganz nah ins eigene Bett gerückt, verortet man es heute in Afrika, in Russland oder in unzugänglichen Schwulenbars. Aber darauf, dass Deutschland mit seiner HIV-Infektionsrate im westeuropäischen Vergleich verhältnismäßig gut abschneidet, sollte sich niemand ausruhen, egal ob Homo oder Hetero.