„Neuwahlen wären ein Kompromiss“

Der ukrainische Politologe Rostyslaw Pawlenko setzt auf den Spruch des Obersten Gerichts: „Es hat bewiesen, dass es unabhängig ist“

taz: Herr Pawlenko, die Unterstützung für das Regime von Präsident Leonid Kutschma scheint zu bröckeln. Mehr als 470 Diplomaten des ukrainischen Außenministeriums haben Wiktor Juschtschenko ihre Unterstützung zugesagt. Wenn er gewinnt, wird er durch eine Revolution von unten oder durch politisch legale Mittel an die Macht kommen?

Rostyslaw Pawlenko: Juschtschenkos Team hat einen Kompromiss vorgeschlagen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass das Oberste Gericht der Ukraine die Wahlergebnisse in vielen Wahlbezirken, in denen in- und ausländische Wahlbeobachter von Fälschungen berichtet haben, für illegal erklären wird. Dann wäre Juschtschenko der Sieger der Präsidentenwahl. Zugleich würde das zu Protesten im Donbass führen, dem Osten der Ukraine, aus dem Wiktor Janukowitsch stammt. Um die Situation zu befrieden, sieht der Kompromiss eine neue Wahlrunde vor. Die Bedingungen dafür sind die Präsenz von internationalen und OSZE-Wahlbeobachtern, eine veränderte Zusammensetzung der Zentralen Wahlkommission und eine Änderung des Wahlgesetzes, um neuen Wahlfälschungen vorzubeugen. Wenn das Kutschma-Regime diese Bedingungen akzeptiert, dann ist mit einer neuen Wahlrunde zu rechnen. Der Sieger gelänge dann durch politisch-legale Mittel an die Macht.

Dem Obersten Gericht liegen etwa 11.000 Beschwerden über Wahlfälschungen vor. Offenbar ist es auch in der Westukraine, die mehrheitlich für Juschtschenko gestimmt hat, zu Wahlfälschungen gekommen.

Das hat das Kutschma-Regime behauptet und ist deshalb vor Gericht gezogen. In den meisten Fällen aber sind diese Versuche fehlgeschlagen, weil die Behörden nicht genügend Beweise vorbringen konnten. In der Tscherkassy Oblast in der Zentralukraine, die auch für Juschtschenko gestimmt hat, hatte das örtliche Gericht die Wahlergebnisse zunächst annulliert. Das Oberste Gericht jedoch hat die Entscheidung aufgehoben, weil man nicht von massiven Wahlfälschungen sprechen könne.

Ist das Oberste Gericht unabhängig genug, um die Krise zu lösen?

Ja, es hat vor beiden Wahlrunden bewiesen, dass es unabhängig ist. Und nun hat es die Entscheidung der Zentralen Wahlkommission, Janukowitsch zum Gewinner zu erklären, aufgehoben. Natürlich hat es Bestechungsvorwürfe gegeben, aber es fehlen Beweise.

Könnte die Entscheidung des Obersten Gerichts zu einer Verfassungsreform führen, die die weitreichenden Befugnisse des Präsidenten aufweicht?

Juschtschenko als auch Janukowitsch unterstützen eine Verfassungsreform. Die Frage ist aber, wann sie verwirklicht werden soll. Das alte Regime zieht eine Verfassungsreform zum jetzigen Zeitpunkt vor, um sich die Kontrolle über das Parlament und wichtige Posten in der Regierung zu sichern. Juschtschenko dagegen hat sich für die Reform erst nach der Parlamentswahl im Jahre 2006 ausgesprochen. Das ist der Unterschied. Es wird aber keine Reform geben, bevor nicht geklärt ist, wer der nächste Präsident ist.

INTERVIEW: MONIKA JUNG-MOUNIB