Ein magischer Ort

In Varanasi berühren sich Fluss und Mensch. Dort, am heiligen Fluss Ganges, will jeder Hindu sterben. Über 2.000 Tempel stehen hier, und jedem Abend gibt es das gleiche Ritual zu Ehren des Flusses

VON GUNDA SCHWANTJE

Varanasi, Benares, Kashi. Drei Namen trägt sie, diese Stadt, und ist eine der ältesten der Welt: betagter als Jerusalem und Athen, sie hat Babylon vergehen sehen und Tikal. Varanasi schmiegt sich ans Ufer des Ganges in der großen Ebene in Indien, oder vielmehr den Ganges zog es hin zu Kashi, der Stadt des Lichts, auf dem Weg vom Himalaja zum Golf von Bengalen wandte der Fluss sich einzig hier nach Norden, floss beinahe rückwärts, als er Kashi sah. So will es die Mythologie.

Varanasi. Das ist ein Fest der Sinne. Ein Rausch der Farben. Ist Chaos. Durch uralte Gassen fließt ein nie versiegender vielfarbiger Strom von Leibern. Safrangelb. Karminrot. Himmelblau. Grün wie Bambus. So leuchten die Saris der Frauen. Augen, die vorbeigleiten, tausende Gesichter. Die Schönheit der indischen Frauen. Ausgestreckte Hände von Bettlern, bei manchem sind die Glieder verkrüppelt. Ein Mensch ohne Beine rudert auf einem Brett durchs Gewirr. „Madame, boat, you want boat, Madame? Cheap! Need room? Silk?“ Den ganzen Tag geht das Mantra. Seidenhändler lagern in ihren farbsatten Auslagen. Trinken Tee. Für seine Seide ist Varanasi weltberühmt. Im Staub eine Frau: Sie verkauft nur Knoblauch, nur stückweise, selten eine Knolle. Schneider arbeiten in badetuchbreiten schummrigen Shops. Mit einem schweren Eisen bügelt ein Wäscher weiße Hemden auf dem Sims einer Hauswand. Das ist sein Geschäft. In jeder Nische ein Schrein, unter den raren Bäumen, in jeder Gasse zu Ehren des Gottes Schiwa, blutrot und orangegelb und mit Ringelblumen frisch geschmückt. Internetcafés. Hunde, die ihr ganzes Fell weggekratzt haben. Eine Gasse hinauf trottet ein heiliger Bulle. Der Strom drückt sich gegen die Hauswand und an ihm vorbei. Plastikmüll, Dreck. Füße ohne Schuhwerk. Abwässer und Urin, die zum Ganges strömen. Bilder fluten das Gehirn. Ein Sahdu, er ist ein heiliger Mann in orangefarbenem Tuch und trägt den Dreizack Schiwas, drückt Touristinnen in Saris die Tika, das rote Mal, auf die Stirn. Der Duft von Räucherstäbchen mischt sich mit dem Gestank von Kuhfladen an diesem glutheißen Tag. Zimbeln, Tablas, und aus den Lautsprechern der Tempel schallen Rezitationen aus Sanskrittexten: Das ergibt den Klang Varanasis, unterlegt vom Beepen der Rikschas. Eine Hochschwangere mit einem Baby erbittet Almosen. Augen, die einander treffen. Ein Lachen. Bittersüß ist der Geschmack Varanasis.

Die heilige Stadt – über 2.000 Tempel stehen hier. Der launische Gott Schiwa hat Kashi als Residenz erkoren, als er mit seiner Braut Parwati auf der Suche war nach einem irdischen Heim. Und Schiwa ist es auch, der der Göttin Ganga die zerstörerische Wucht nimmt im Himalaja, wo der Strom vom Himmel fällt auf Schiwas Haupt und dann langsam durch das Geflecht seiner Locken hinabrinnt, den Himalaja hinunter in die Ebene.

Der mächtige Ganges mit den braunen Wassermassen ist den Hindus heilig, und an den Ghats in Varanasi, einer fünf Kilometer langen Uferbefestigung aus Stufen und Plattformen, kann man Gläubige aus ganz Indien, Hindus aus der ganzen Welt baden sehen, wenn der Tag anbricht. Dann verleiht die Sonne „Mutter Ganga“ – so nennen sie den Himmelsfluss – einen mattgoldenen Ton, und Kashi schimmert in Gold und Rot und Mango. Zur rituellen Reinigung kommen sie, die Gläubigen und Pilger. Sie waschen sich von Sünden rein im heiligen Strom und wollen damit ein besseres Karma im nächsten Leben erlangen. Gut 80 Prozent der über eine Milliarde Inder auf dem Subkontinent sind Hinduisten. Sechszigtausend sollen es im Durchschnitt sein, die an einem normalen Tag in Varanasi im Ganges baden. Bis zur Hüfte im Wasser stehen die Gläubigen, im Gebet, in sich gekehrt, umschlungen vom Fluss. Sie übergeben dem heiligen Wasser Ringelblumengirlanden und ihre Sorgen. Sie schöpfen Gangeswasser in kleine Kupferkrüge und nehmen es mit. Manche trinken aus dem heiligen Strom.

Der Fluss hat ein Problem. In Varanasi hat der Ganges bereits die Industrie- und Millionenstädte Kanpur und Allahabad hinter sich gelassen und den Jamuna aufgenommen, einen großen Nebenfluss, der aus Delhi kommt. Überall werden Abwässer eingeleitet, auch ungeklärt. Der Ganges ist eine Kloake. Im Fluss treibt eine tote Kuh mit bedrohlich aufgetriebenem Bauch. Seit drei Tagen dümpelt sie dort. Zwischen den Badestellen. Vergnügte Kinder springen von einer Plattform ins Wasser. Eine Herde Wasserbüffel hat im Fluss Platz genommen, und ein Ghat weiter waschen Dhobiwallahs, so heißen die Wäscher, enorme Mengen Kleidung im Fluss, später hängen Hemden und Hosen auf der Balustrade zum Trocknen, flattern Saris im Wind.

Am Dasashwamedh Ghat gibt es eine Zeremonie zu Ehren von Mutter Ganga. Jeden Tag. Sobald die Sonne gesunken ist. Mit fließenden Bewegungen schwenken Priester Öllampen, grüßen den Fluss. Sanskrit-Mantras, Glockenläuten und rhythmisches Trommeln sind Teil der Rituals. In kleinen Blätterbooten werden hunderte Lichter von Holzbooten aus in den Ganges gesetzt. Sanft nimmt die Strömung die flackernden Flammen mit, in der langen Biegung schaukeln sie langsam davon vor dem dunklen Horizont. Das gegenüber liegende Ufer wurde nie besiedelt. Als werde hier ein Märchen erzählt, taucht an diesem Abend ein alter Mann in einem zauberhaften, mit blauen Pailetten und Lichtern geschmückten, sehr kleinen Holzboot auf, das Plastikwasserflaschen als Stabilisatoren hat. Er betrachtet die Zeremonie vom Wasser aus. Andächtig. Überall auf dem Fluss schimmern die Flämmchen.

Die letzte Reise. Seit Jahrhunderten brennen die Feuer, ununterbrochen, Tag und Nacht, am Manikarnika Ghat. Und dieser Ort hat eine so hohe Intensität, dass man glaubt, dies werde auch in Zukunft immer so bleiben. Völlig unberührt von Zeit ist dieses Ritual. Archaische Bilder. Der älteste Sohn des Toten hat den Kopf geschoren bis auf eine Strähne, hat ein weißes Tuch um die Hüfte geschlungen und steht nun mit nacktem Oberkörper am Scheiterhaufen. Der Tote liegt zwischen Baumstämmen und Anmachholz, und die Hüter dieser Stätte, Unberührbare, schüren das Feuer. Langsam brennt der Mensch. Er ruckelt noch ein wenig zwischen den Scheiten, als wolle er es sich bequem machen. Acht weitere Scheiterhaufen erhellen die Nacht.

Nur in Kashi können sich die Hindus durch den Tod befreien aus dem Kreislauf der Reinkarnation, so ist es überliefert. Gott Schiwa kennt das Mantra, das nötig ist für die Überfahrt, für den Übergang ins Nirwana, und flüstert es den Sterbenden zu, wenn die Seele sich vom Körper trennt, glauben die Hindus. Hier ist der Tod willkommen, ist ein glückliches Ereignis. Rund 70.000 Menschen werden jährlich in Varanasi eingeäschert am Manikarnika Ghat. Und in der Stadt ist der Tod immer präsent.

Durch die Menschenflut in den Gassen fädelt sich ständig ein Strom von Bahren. Die Toten werden unter lautem Rufen zum Marnikarnika Ghat getragen, und nach dem Verbrennen kommt die Asche in den Fluss. „Mutter Ganga“ nimmt alles auf, schwemmt alles fort.

Im Morgengrauen des folgendes Tages baden ein paar Schritte hinter den Holzstapeln am Manikarnika Ghat hunderte. Babys schreien, Frauen bürsten ihr langes Haar, Männer rasieren sich nach dem rituellen Bad, während die Unberührbaren ihre Arbeit tun. Leben und Tod ist öffentlich, ist ein fließender Übergang am Ganges in Kashi, Benaris, Varanasi.