FALSCHE GÖTTER
: Karte für Karte

Keine Pferdenamen, sondern begehrte Titel

Der Sonntag vor dem Theatertreffen, halb sechs Uhr früh. Der Wecker klingelt. In mir kämpfen der innere Schweinehund und die Vorfreude auf ein Ritual: Mit raschelndem Zeitungspapier, komplexen Starterlisten und Gerüchten über Favoriten geht es an diesem Morgen vorm Haus der Berliner Festspiele jedes Jahr wie auf der Pferderennbahn zu. Nur dass Othello, Marat oder Dido hier keine Pferdenamen, sondern Titel begehrter Theaterkarten sind.

Mit Klappstühlen bewaffnete Parkettanwärter bildeten noch jedes Mal die Spitze der Kassenschlange und zementierten ihre Pole-Position mit handgeschriebenen Wartenummern. Gegen neun Uhr, bevor die Festspiele ihre offiziellen, die gedruckten Nummern ausgeben, drängeln sich mindestens weitere zwei Dutzend, vermutlich ebenfalls der Seilschaft zugehörende Aspiranten mit der fadenscheinigen Begründung vor, sie seien am Vorabend schon mal da und bei bisher jedem Theatertreffen dabei gewesen. Und wenn um zehn Uhr die Kasse endlich öffnet, geht der Wettlauf in die dritte Runde: Junger Mann, wären Sie so freundlich, mir zweimal „Gott des Gemetzels“ mitzubringen? Kurz: Es ist ein Drama voll Leidenschaft, Pathos und Intrige, voll Neid, Empörung, Solidarität und Aufbegehren, voll Niederlagen und Triumphen.

Der Himmel ist blau. Die Vögel zwitschern. Auch die Kastanien blühen, als ich anderthalb Stunden später tatsächlich in die Schaperstraße biege. Bin ich der Erste? Ich jubiliere. Von Schlange – keine Spur. Oder doch zu spät? Der falsche Tag? Auch das, wie ich tags darauf am Kartentelefon erfahre. Vor allem aber fand der Vorverkauf ab diesem Jahr im Internet statt. An der Schaperstraße gab es Mittwoch nur noch Restkarten. Und ich hatte es schon für eine besonders ausgebuffte Strategie gehalten, dass dieser echte Traditionstermin auf keinem Flyer auftaucht.

ROBERT SCHRÖPFER