Himmel über den Kirchen

Kein Skandal: Christoph Schlingensief inszeniert am Wiener Burgtheater Elfriede Jelineks Stück „Bambiland“ und macht daraus eine in sich geschlossene, vielschichtige Oper – wahnwitzig, triumphierend, hemmungslos überzogen. Vielleicht aber auch eine Idee zu perfekt und ohne ein Risiko einzugehen

von FLORIAN MALZACHER

Kein Skandal. Trotz des Theaters im Vorfeld: Burgschauspieler verlassen scharenweise die Produktion. Schlingensief vergleicht Burgschauspieler mit fetten Schweinebraten. Wegen obszöner Bilder wird die Vorstellung erst ab achtzehn freigegeben. Die Karten sind lang im Vorfeld ausverkauft. Wer keine mehr bekommt, wird vertröstet: „Warten Sie doch zehn Minuten, dann sind die Ersten eh wieder draußen.“ Doch das Stück dauert zwei Stunden, gegen Ende gehen leise drei vereinzelte Zuschauerinnen. Kein Skandal.

Aber der Leistungsdruck auf Christoph Schlingensief wächst. Hier die erste Burgtheaterinszenierung – im nächsten Jahr dann der Parzival. Der Parzival. In Bayreuth. Alles hat plötzlich einen Flucktpunkt. „Atta Atta“ in der Berliner Volksbühne. „Church of Fear“ in Venedig und Frankfurt, Jelineks „Bambiland“ in Wien. Nächste Station Zürich. Und dann Bayreuth. „Für mich stellt sich nicht die Frage, wie ich den grünen Hügel verändere. Für mich stellt sich eher die Frage, wie der grüne Hügel mich verändert.“ Das tut er längst. Mit Parzival hat Schlingensief ein Bild für seine Suche gefunden. Mit seinen Augen stapft er durch eine Welt der Angst, des Terrors, des Krieges, des Chaos.

Das ist auch die Welt von Elfriede Jelineks „Bambiland“: Fußend auf Aischylos „Perser“ und vor allem auf dem propagandistischen oder achtlos-zynischem Medienschrott während des Golfkrieges. Elfriede Jelineks Entscheidung für Schlingensief als Uraufführungsregisseur ist so nahe liegend, dass man staunt. Mögen die Worte ihres Textes in seiner Interpretation nicht immer im Vordergrund stehen – ernst nimmt Schlingensief ihn sehr wohl.

Der Abend beginnt, wie auch „Atta Atta“ begann, Schlingensiefs Auseinandersetzung mit Terror, Kulturbetrieb und eigener Biografie an der Berliner Volksbühne – alles Selbstzitat und Fremdzitat. Ein plätschernder Anfang, ein bisschen Actionpainting mit dem Hintern, ein bisschen Kunstbetriebsparodie, ein paar Pointen. Eine Ouvertüre, vielleicht sogar das Instrumentestimmen davor – dann wird das Proszenium eingerissen und der Blick frei auf den Raum dahinter: Parzivalland. Bilder einer Suchbewegung gehen ineinander über; der Fokus verändert sich beim Wandern. Die Szenen enden nicht, sondern verschwinden aus dem Blick. Motive und Assoziationen sind stärker als jede Narration, Schlingensiefs Arbeitsweise ähnelt hier stark Jelineks Arbeitsweise und ordnet diese ihren eigenen Prinzipien unter.

Durch diese Landschaft irrt man in Trance und ohne Zusammenhang. Doch dazwischen manifestiert sich immer wieder und immer deutlicher ein Wunsch nach Halt, nach Glauben: Kirchen fahren leuchtend vom Himmel oder werden aufgeblasen aus Plastik. Kein Regisseur dürfte bislang mit einer solchen Kapellensammlung auf dem grünen Hügel angekommen sein.

Während auf der Bühne die verbliebenen Burgschauspieler (ungefähr drei), ein paar Statisten und einige Streiter aus Schlingensiefs Standardlaiencrew deklamieren, Szenen anreißen, Prozessionen beschreiten, schwebt hinter, vor und über dem Ganzen ein abendfüllender, eigenständiger Film, der sich schließlich in einen überdimensionalen Porno verwandelt: Zwei leicht bekleidete Damen masturbieren einen attraktiven jungen Mann – während Udo Kier und Margit Carstensen (die auch auf der Bühne steht und Jelinek-Texte spricht) amüsiert und animiert das Treiben beobachten. Mit dem Orgasmus stirbt der junge Mann, ein Soldat plötzlich, auf dem Feld maskuliner Ehre.

Schlingensief zitiert blutig den Wiener Aktionismus, zitiert Beuys und was ihm sonst noch in die Finger kommt – und schafft daraus etwas Eigenes: Das Theater wird zum Ereignisraumm, und das Ereignis ist größer als all seine theatralen Bestandteile. Und davon gibt es viele: Auf drei Leinwänden unterschiedliche Filme, dazu Bewegung auf der Hinterbühne, Performancezitate, Parteitagszitate, Jelinekzitate, von links ein lamentierender Kommentar, dazu fönt Wagnermusik über die Rampe: reine Überforderung. Ein dissonanter, aber mächtiger Klang. Perfekt produziertes, komplexes Chaos.

Etwas zu perfekt vielleicht: Was fehlt, sind diesmal alle Momente, in denen sich Schlingensief selbst riskiert, in denen ihm alles entgleiten könnte, wenn die Dramaturgie ein kaum mehr sichtbarer Faden oder aber ein völlig verknotetes Wollknäuel wird. „Bambiland“ ist in sich geschlossen; eine vielschichtige Oper, wahnwitzig, triumphierend und hemmungslos überzogen. Kein Skandal. Aber mehr zu kauen, als man an einem Abend verdauen kann.