Die Inselwelten von Tokio

Die aufgeschütteten Inseln in der Bucht von Tokio locken Besucher mit Fischspezialitäten oder vielfältiger Zerstreuung. Odaiba beispielsweise ist up to date. Filme laufen schon vor der Premiere, hier arbeitet ein Astronaut als Museumsdirektor

VON RUTH BOSSART

Die Türe des kleinen Holzhauses klemmt beim Schieben. Im Geschäft herrscht vornehmes Dämmrigkeit. Drei Frauen in Weiß sitzen mit untergeschlagenen Beinen auf Tatamimatten. So, wie anständige Frauen sitzen. Ein freundliches „Irasshai“ kommt im Chor. Es riecht ungewohnt. Die sitzenden Frauen verschwinden fast hinter den roten Schalen mit schwarzem, orangefarbenem, hellbraunem und gelbem Inhalt. Handgeschriebene Preisschilder verraten, was drin ist: Babysardellen, Seetang, kleine Garnelen und Tintenfische – 18 verschiedene Sorten Tsukudani, die hier hergestellt werden. Meeresfrüchte werden in einer Gewürz- und Sojasauce unter Zugabe von Zucker eingekocht. Die so konservierten Fische, Muscheln und Seegräser sind eine begehrte Delikatesse zu einer Schale Reis. Das Rezept ist auch heute noch das gleiche wie im vorletzten Jahrhundert.

Leise summt die Klimaanlage. Die Frauen lächeln freundlich, alle drei beraten bei der Auswahl. Flink wird das Gewünschte in eine kleine Holzkiste gepackt, in Papier eingewickelt und mit einem Band befestigt. Eine Kasse gibt es nicht. Das Rückgeld fischt die Frau aus einem Korb. Wahrscheinlich war das schon 1837 so, als der Laden gegründet wurde.

Damals war Tsukudajima noch eine Insel mit einer Fährverbindung nach Festlandtokio. Viele Bewohner der Insel fanden ihr Auskommen als Fischer – so wie ihre Vor- und Vorvorväter. Die Insel wurde im 17. Jahrhundert geschaffen, durch Aufschütten des Wattenmeeres. Es war der erste Stadtteil, der in der Tokioter Bucht dem Meer abgerungenen worden war. Der herrschende Shongun wies das neue Land zugewanderten Fischern aus Osaka zu. Diese mussten dafür seinen Hof mit frischem Fisch versorgen. Was übrig blieb, durften sie verkaufen. Die andere, nichtoffizielle Aufgabe war, unerlaubten Schiffsverkehr im Hafen von Tokio zu rapportieren. Der Shongun aus Nagoya wollte diesen Auftrag nicht den einheimischen Fischern übertragen.

Tokio wuchs und der Landhunger war unersättlich. Ende des 19. Jahrhunderts wurde Tsukudajima massiv vergrößert. Das Neuland nannte man Mondland und baute darauf Maschinenfabriken und Lagerhäuser. Die Fischer blieben auf Tsukudajima – bis zur Hochkonjunktur der 60er- und 70er-Jahre. Damals mussten viele aufgeben; das Wasser der Tokioter Bucht wurde immer dreckiger, die Fänge magerer, die Qualität schlechter. Die Fischer wurden Händler oder Gastwirte.

Die meisten bewohnen ältere Gebäude, viele nicht höher als zwei oder drei Stockwerke. Über den engen Gassen trocknet Wäsche. Unterhosen, Strümpfe, Socken – festgeklammert an Eisenstangen. Auch die Futons werden gesonnt. Alle hundert Meter steht ein hypermoderner blau-roter Feuerlöscher. Kein Haus, dass nicht Bonsaipflanzen und Blumen vor seiner Türe aufgebaut hätte, die Erde übersäht mit Eierschalen und dazwischen ein Glas voll Goldfische. Entlang der Sträßchen zieht sich ein Kabelgewirr von Mast zu Mast. Im Falle eines Erdbebens soll die Reparatur von Strom- und Telefonkabeln einfacher sein, wenn sie nicht im Boden verlegt sind. Diese Insel hatte bisher Glück. Sie überstand das große Kanto-Erdbeben von 1923 ziemlich schadlos. Und auch von den Bomben des Zweiten Weltkriegs blieb sie verschont.

Ein offenes Fenster gibt den Blick frei in eine Restaurantküche, in der Monja-yaki zubereitet wird. Der neuere Teil der Fischerinsel ist bekannt für diese Speise. Auf gusseisernen Platten wird ein Teig aus Weizenmehl und Wasser gebacken, der mit fein gehacktem Gemüse, Fleisch oder mit Meeresfrüchten vermischt wird. Das Geschäft läuft sehr gut. Waren es 1954 gerade drei, so bieten heute über 60 Restaurants diese Spezialität an, die ursprünglich ein Bauchfüller für die Unterschicht war.

Keine drei Kilometer entfernt liegt das jüngste, von Menschenhand geschaffene Landstück: Odaiba, 448 Hektar groß. Doch die beiden Inseln trennen Welten: Auf Odaiba steht eines der größten Riesenräder der Welt, futuristische Glitzergebäude säumen den Pier, tausende Touristen bevölkern täglich Adventureland, Spielhallen und Shoppingmalls, essen Burger, Crêpes oder Pizza. Zum Nachtisch ordern sie Fruchteis und Zuckerwatte – unkompliziert vom Automaten.

Vom Festland her fährt eine Hochbahn nach Odaiba. Lautlos, vollautomatisch: die Ticketausgabe, die Fahrausweiskontrolle, der Zug computergesteuert. Der Führerstand bleibt trotzdem nie leer. Die Fahrt über die Bucht und die weiße Regenbogenbrücke eröffnet neue Perspektiven: die Silhouetten der Wolkenkratzer, ein unendliches Häusermeer, linker Hand die Dächer der Fischerinsel, Frachtterminals und schließlich das Riesenrad, die Strandpromenade mit Beachbetrieb, ein paar Wohnblocks, die spiegelnde Fassade von Fuji-TV. In der Ferne ein Triumphbogen aus blaugrauem Glas.

Odaiba ist up to date. Filme laufen schon vor der Premiere, hier wirkt ein Astronaut als Museumsdirektor, Spazierhunde werden per Stunde vermietet und die Besucher der Vergnügungsinsel können automatisch gesteuerte Autos testen. Nicht immer sah Odaibas Zukunft so vielversprechend aus. Vor einigen Jahren schien es, dass das Eiland einem ungewissen Schicksal überlassen würde. In den boomenden 80er-Jahren wollte sich ein größenwahnsinniger Bürgermeister ein Denkmal setzten und plante eine giganteske Bebauung – mit staatlichem Geld. Der Stadtvater wurde abgewählt, sein Nachfolger stoppte das Projekt, redimensionierte es. Niemand glaubte mehr an den Erfolg, man wollte lediglich die angefangenen Gebäude fertig bauen. Doch es kam anders: Die romantische Aussicht, Restaurants, Parks, der Strand und das Riesenrad hatten Erfolg. Vor allem unter Jungen wurde Odaiba zum beliebten Ort fürs Händchenhalten. Die Investoren zeigten wieder Interesse und bauten Hotels, Spielhallen, Museen. Der neuste Schrei ist ein Thermalbadepark, perfekt auf gute, alte Zeit getrimmt: Badehäuschen aus Bambus, Besucher im klassisch bedruckten Baumwollkimono, Sushi und Sake unter Papierlaternen in Straßenzügen aus dem vorletzten Jahrhundert. Einen Laden mit den Delikatessen Tsukudani, den in Soja und Zucker eingekochten Meeresfrüchten der Fischerinsel, sucht man allerdings vergeblich.