Im Bermudadreieck

CDU und CSU versuchen sich zwischen Werten, Interessen und dem Vaterland neu zu positionieren. Was fehlt, sind Anstrengungen, daraus konkrete Politik abzuleiten

Die Union muss sich entscheiden, ob sie Teil des Problems oder Teil der Lösung sein will

Lange durfte man rätseln, wie sich die Union positionieren würde. Friedrich Merz und Horst Seehofer standen für Politikentwürfe, die man nicht gleichzeitig realisieren kann. Nun sind sie weg, der Marktradikale und der Sozialkonservative. Wohin wird die Reise jetzt gehen: rechts oder links an der SPD vorbei, hin zu einer starken, glaubwürdigen Reformpartei? Es kommt anders, der Parteitag wird es bestätigen: CDU und CSU versuchen, abzuheben und die Probleme dieser Welt wie auf einer außerirdischen Umlaufbahn zu umkreisen. Die Zauberwörter lauten: Werte, Interessen und Vaterland.

Warum auch nicht? Hat nicht George W. Bush eben erst erfolgreich demonstriert, wie man so etwas macht? Ist es nicht plausibel, dass die Menschen sich in unsicheren Zeiten nach sicheren Fundamenten sehnen? Was sollte schlecht daran sein, die Politik an Werten zu orientieren, Interessen zu verfolgen, sich dem Vaterland zugehörig zu fühlen? Eigentlich nichts, und eben das ist das Problem der Union.

Eine Gesundheitsreform etwa, die diesen Namen verdient, liegt sicher im Interesse der Deutschen. Nur hat bisher kaum jemand behauptet, dass man dies von dem Unionskompromiss sagen kann. Die Eigenheimzulage zu streichen und stattdessen in Bildung zu investieren läge gewiss im Interesse des Landes. Doch man hört wenig davon, partikulare Interessen zurückzufahren und dafür gemeinsame Interessen zu befördern.

Wer wollte etwas gegen Werte sagen? Nur unternimmt die Union (fast) bei keinem Thema besondere Anstrengungen, konkrete Politik aus ihren Grundwerten abzuleiten. Wenn von Gerechtigkeit die Rede ist, dann sieht und hört man Blüm, Geißler und Seehofer. Die einen halten mit der alten Idee auch die alten Formen der Gerechtigkeit fest. Die anderen werfen mit den alten Strukturen auch gleich die alten Werte über Bord. Dazwischen liegt – nicht nur bei der Union – ein weites, leeres Feld.

Werte und Politik werden auf getrennten Spielfeldern bespielt, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben. Es war ein Fortschritt ersten Ranges, eigene nationale Interessen teilweise hintanzustellen, um gemeinsame Werte in Europa zu verwirklichen. Heute bringt Angela Merkel einen anderen Zungenschlag in die Debatte: Wo das nationale Interesse eindeutig zu formulieren und zum Nutzen aller zu realisieren wäre, wird es wortreich beschwiegen: von der Familien- bis zur Bildungspolitik.

Dafür wird es dort, wo es alte Gräben aufreißen und neue schaffen könnte, diffus und wolkig beschworen: draußen in Europa und gegen den Türkei-Beitritt, drinnen gegen Fremde, vor allem gegen Muslime. Werden wichtige Themen tatsächlich angegangen, von der Gesundheit bis zum Arbeitsmarkt, dann argumentieren sie wie Sachbearbeiter einer Arbeitsagentur: in der Maßnahmen- und Verwaltungs-, nicht in der politischen oder gar in der Wertelogik.

Dafür entdeckt die Union nun, zum vierten Mal in vier Jahren, wieder Vaterland und Leitkultur. Was aber ist im 21. Jahrhundert der Deutschen Vaterland? Wer gehört dazu, wer nicht? Täuscht der Eindruck, dass die Union, wenn sie von Integration oder von nationaler Identität redet, dies oft in einer Sprache der Ab- und Ausgrenzung tut? Vielleicht auch deshalb, weil sie in den eigenen Milieus Probleme mit der kulturellen Vielfalt an Lebensstilen und -formen hat?

Der Triumph über das „Ende von Multikulti“ übertönt mehr schlecht als recht das jahrelange eigene Politikversagen. Wer aber von kulturellem Pluralismus nicht reden will, der sollte von Integration lieber schweigen. Es war bemerkenswerterweise Roland Koch, der die Union daran erinnert hat, sich und anderen klar zu machen, „wie wir in Zukunft die vielen verschiedenen Identitäten in Deutschland zusammenhalten wollen“.

Die Gesellschaft wird bunter, vielfältiger, unübersichtlicher. Diese Entwicklung wäre auch dann eingetreten, wenn kein Türke je deutsches Land betreten hätte. Es waren Reformation, Aufklärung und Demokratie, die alles durcheinander brachten. Die „vielen verschiedenen Identitäten“ sind Folgen einer Entwicklung, die die Migration verschärft, nicht geschaffen hat; und die von Anfang an das konservative Unbehagen an der Moderne verursacht hat.

Die Union muss sich entscheiden, ob sie Teil des Problems oder Teil der Lösung sein will; ob sie problematische Traditionsbestände mitschleppen oder sie überwinden will; ob sie einem reflexiven Patriotismus das Wort redet oder dem klassischen Deutschtum. Wenn es um Werte, Interessen und Vaterland geht, dann stehen immer auch ganz andere Dinge zur Debatte. Es geht nicht um die deutsche Leitkultur, sondern um die politische Kultur in der Union.

In diese Richtung kann man auch das Ergebnis nach und das Gemurmel während der Mitgliederbefragung der Südwest-CDU deuten. Nach Wahlniederlagen pflegt die Partei zu fragen, ob ihr eine mangelnde kulturelle Offenheit in den großen Städten geschadet habe. Vor Wahlkämpfen stürzt sie sich dann in eine christlich grundierte Wertedebatte, die surrealistische Züge annimmt in einer Gesellschaft, deren Mehrheit im Osten und eine wachsende Minderheit im Westen nicht mehr weiß, warum der Mann da am Kreuze hängt.

Der Triumph über das „Ende von Multikulti“ übertönt das eigene Politikversagen mehr schlecht als recht

Es war ein Leitartikler in der FAZ, der nach dem jüngsten CSU-Parteitag die „Parallelwelten“ Stoibers und der Partei beschrieben hat. Ein Konservatismus light ist im Angebot, der ihr einträufelt, das Pendel schlage zurück – als ob Familie, Nation, Europa, Heimat, Gerechtigkeit, Zusammenhalt, Leben und Arbeit jemals wieder in den alten Formen gedacht werden könnten. So gleicht eine große Partei immer mehr einer Riesenthermoskanne: innen schön warm – und außen lässt sie die Leute kalt.

Werte, Interessen, Vaterland: Die Union ist dabei, große Themen zu verspielen. Auf Dauer gefährdet nichts nachhaltiger die Zukunft einer Partei, des Landes und auch der Werte selbst, als diese erkennbar zu parteipolitischen Zwecken zu instrumentalisieren. Sind Werte einmal wertlos, kann man sie nicht wieder herbeizitieren. Es könnte sein, dass eines Tages die Sprache verschwindet, in der man über Gerechtigkeit reden und sich damit auch noch verständlich machen kann. Sollte eine Integration der vielen verschiedenen Identitäten misslingen, wird nicht das romantische Deutschtum („Kein schöner Land in dieser Zeit …“) wieder auferstehen, sondern eher das Gegenteil. Wenn alle demokratischen Leidenschaften erloschen sind, braucht man an eine wehrhafte Demokratie nicht mehr zu denken.

Unintellektuell und auch noch stolz darauf: So hat vor vierzig Jahren Johannes Gross die CDU beschrieben. Damals lagen die traumatischen Erfahrungen hinter und die wunderbaren Jahre vor Land und Leuten. Inzwischen ist die Welt komplexer geworden. In dieser Lage braucht Politik Orientierung, eine zuverlässige See- oder Landkarte und konzeptionelle Anstrengungen, um Werte und Wirklichkeit zusammenzubringen. Fehlt eines dieser Elemente, ist das Scheitern vorprogrammiert.

WARNFRIED DETTLING