Eine neue Ost-Orientierung

Noch hat die Demokratie in der Ukraine nicht gesiegt. Das Land braucht gerade nun Hilfe – vor allem von der EU. Wer das nicht erkennt, hat eine historische Chance verpennt

Wenn man Polen künftig eine führende Rolle in der Ostpolitik der EU einräumt, fühlt es sich mehr integriert

Mit der Entscheidung des Obersten Gerichts der Ukraine und dem Händedruck zwischen den beiden Kontrahenten Juschtschenko und Janukowitsch kehrt jetzt erst einmal der Alltag zurück. Noch gibt es keinen Sieg zu feiern. Die alten Eliten haben längst nicht abgedankt, sie haben nur die Notbremse gezogen und ihren Frontmann Janukowitsch fallen gelassen. Doch damit ist die Macht der Oligarchen nicht gebrochen, zumal auch Juschtschenko auf ihre Unterstützung angewiesen ist.

Es kommt hinzu: der kräftige Wirtschaftsaufschwung der vergangenen vier Jahre ist durch die Demonstrationen und Blockaden vorübergehend zum Erliegen gekommen. Die Ukraine braucht daher Hilfe. Aus Russland wird kaum Unterstützung für die neue Regierung kommen, denn Moskau empfindet den Sieg von Juschtschenko als einen Affront. Wenn die Ukrainer Pech haben, wird es ihnen demnächst so gehen wie den Georgiern in den ersten Jahren nach dem Zerfall der Sowjetunion. Der große Nachbar weigerte sich aus Verärgerung über den prowestlichen Kurs von Schewardnadse, weiterhin Wein und Südfrüchte abzunehmen. Das brachte die georgische Wirtschaft an den Rand des Zusammenbruchs. Unter Jelzin wurden zudem die Separatisten in einigen abtrünnigen Regionen gefördert.

Auch in der Ukraine hat die Spalterei schon begonnen. Die Drohung aus dem ostukrainischen Donbass, sich durch eine weitgehende Autonomie unabhängig zu machen, kam sicher nicht ohne Duldung des großen Nachbarn zustande. Ein Griff an den Energiehahn, und schon könnte die Ukraine wieder in den Zustand von 1996 zurückfallen, als die Heizung im Winter nur einige Stunden pro Tag lief. Dies wäre für die Ukrainer um so schmerzlicher, weil sie seit 2001 Wachstumsraten von fünf bis fast zehn Prozent erzielten. Wenn dieser neue Wohlstand wegbräche, könnte sich bei der nächsten Wahl das Blatt schon wieder wenden.

Es hängt daher viel von der Reaktion der EU ab. Die Ukraine wird Hilfe benötigen, egal, was Putin tut. Sollte Juschtschenko die Oligarchen zu entmachten versuchen, wird das zunächst für weitere Unruhe in der Wirtschaft sorgen. Auch die Weiterführung der Reformen mit einer Freigabe der Preise für Energie oder möglicherweise die Mieten käme die BürgerInnen teuer zu stehen. Die EU kann nun vor allem durch den Abbau von Handelsbarrieren helfen. Bislang blockiert die Union die Einfuhr von Stahl und Lebensmitteln, also genau jenen Produkten, bei denen die Ukraine konkurrenzfähig ist.

Wie die Ukrainer nach der Osterweiterung der Union zu spüren bekamen, ist die EU auch in punkto Reisefreiheit eine Festung, Brüssel hat Polen vor dem Beitritt die Einführung einer Visumspflicht für Ukrainer aufgezwungen. Noch weit schwieriger ist es, ein Visum für die Schengenstaaten zu bekommen. Ein deutsches Visum etwa verlangt Ukrainern, die nicht in Kiew leben, in der Regel nicht weniger als drei Reisen in die Hauptstadt ab.

Nach Russland können Ukrainer dagegen mit einem einfachen Passierschein einreisen. Im deutschen Außenministerium herrscht gegenüber diesen Problemen eine erstaunliche Insensibilität. Dies mag daran liegen, dass die Visastelle aus der Botschaft ausgelagert ist, so dass sie offizielle Delegationen kaum zu Gesicht bekommt. Man bemüht sich zwar in Einzelfällen, bei der Erteilung von Visa zu helfen, aber als dabei jüngst Unregelmäßigkeiten zutage traten, forderten einige CDU-Abgeordnete sofort eine nochmalige Verschärfung der Einreisepolitik. Eben diese Ebene von Außenpolitik setzt aber wichtige Signale. Wer tagelang um Visa Schlange stehen muss, fühlt sich ausgegrenzt. Die Festung Europa hat außerdem indirekte Auswirkungen auf Russland. Da die EU die Zuwanderung aus dem Osten fürchtet, hat sie die Ukraine beim Aufbau eines schärferen Grenzregimes nach Russland unterstützt.

Jetzt müsste aber eigentlich eine Politik entworfen werden, die Moskau aus dem Denken der internationalen Politik in Kategorien von Einflusssphären und Machtarithmetik heraushilft. Bislang begreift Moskau eine Westorientierung der Ukraine automatisch als einen Verlust für sich, obwohl dies nicht unbedingt so sein müsste.

Ein bleibendes Resultat der orangenen Revolution in Kiew ist der Wandel der Beziehungen zu Polen. Hier kann man ohne Übertreibung von einem epochalen Durchbruch sprechen. Das polnisch-ukrainische Verhältnis ist ähnlich wie die deutsch-polnischen Beziehungen historisch belastet. Im 20. Jahrhundert kam es immer wieder zu kriegerischen Konflikten zwischen beiden Nationen bis hin zu flächendeckenden Vertreibungen in der Westukraine und dem Südosten Polens.

Dass man in der Ukraine das kyrillische Alphabet benutzt, geht unter anderem auf die Abgrenzung von Polen zurück, das viele Jahrhunderte lang die Ukraine beherrschte. Nun skandierten die Demonstranten in Kiew bei verschiedenen Gelegenheiten begeistert „Polska, Polska“. Polnische Studenten reisten in Scharen in die ukrainische Hauptstadt, um die Oppositionsbewegung zu unterstützen. Die größte Tageszeitung Polens, die Gazeta Wyborcza, produzierte eine Kiewer Ausgabe. All dies wird ins kollektive Gedächtnis der Ukraine eingehen.

Die EU kann nunvor allem durchden Abbau vonHandelsbarrierenhelfen

Ebenso wichtig war die Unterstützung auf politischer Ebene. Die polnische Regierung war die Einzige in der erweiterten EU, die schon nach den Manipulationen in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen und der massiven Einmischung von Putin in den Wahlkampf ihren Außenminister nach Kiew schickte. Warschau demonstrierte damit Wachsamkeit und zeigte im richtigen Augenblick Präsenz. In den vergangenen Tagen trug die Vermittlung des polnischen Staatspräsidenten Kwasniewski wesentlich dazu bei, dass sein noch amtierender Kollege Kutschma der Opposition nachgab und Neuwahlen versprach. Wenn man Polen künftig eine führende Rolle in der Ostpolitik der EU einräumt, dann hätte dies zugleich den Nebeneffekt, dass sich das größte Beitrittsland in Brüssel politisch stärker integriert fühlen könnte.

Das heißt nicht, dass die Bundesregierung so passiv bleiben muss wie zu Beginn der ukrainischen Staatskrise. Eine relativ schnell realisierbare Maßnahme wäre die Eröffnung eines Generalkonsulats im westukrainischen Lemberg, verbunden mit einer verstärkten Zusammenarbeit in der Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft. Eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine steht momentan wohl kaum zur Debatte, wobei das Land auch nicht ärmer oder korrupter ist als etwa Rumänien, das 2007 beitreten soll. Aber die EU muss ein Bündel von Maßnahmen entwerfen, die über den vagen und unspezifischen Entwurf der „Nachbarschaftspolitik“ vom Mai 2004 hinausgeht. Darin wurde die Ukraine wie die Maghrebstaaten und Russland behandelt. Viele Beobachter vergleichen die Situation in Kiew heute aber zu Recht mit der in Polen im Jahr 1990. Wer das nicht erkennt, verpasst eine historische Chance.

PHILIPP THER