Zimtsternsüß klingen die Geigen

Wahrheit goes Rieu und überlebt: Mit Mutter auf einem Konzert des Saitenschinders

Der Teufelsgeiger ist jetzt in seiner himmlischen Hölle angekommen

KREFELD taz ■ Ungewohnt spät ist es geworden, fast 23 Uhr. Und ungewohnt flotten Fußes schwebt die gehbehinderte Mutter Inge (85) aus der Halle. „Ich bin ganz beschwingt“, sagt sie beschwingt. Der Schneeschneeschneeschneewalzer klingt noch hinter uns her. „Ach, es ist ja so selten, dass ich mit meinem Sohn mal geschunkelt habe!“ Auch ihr Gehstock schwingt – in die Waagerechte, ein Zeichen besonderer Energie: „Taxiiii!“

Nein, liebe mitfühlende Freunde und Leser: All die quälenden Vorängste und nagenden Befürchtungen (siehe die Serie „wahrheit goes rieu“ in den vergangenen drei Wochen) waren übertrieben. Ein Abend mit dem Saitenschinder André Rieu ist durchaus überlebensfähig, auch ohne Ohropax und nachträglichen Selbsthass.

Walzer im Dutzend. Märschereien und leichte Vierviertel-Mellodeien, Polken und Oper(ette)nschnipsel, dazwischen „Stückskes“, wie der Meister murmelt. Furchtlose legati furiosi, aufgefächert in klangfarbbunte Regenbogengirlanden und durchgezupftgefiedelte fortissimi gloriosi. Zimtsternsüßer die Geigerei nie klang – gefährlich für Zuckerkranke. Mutters Füße wippen emsig zu funkelnden Partituren mit güldener Patina. Wäre das Bernsteinzimmer ein Lied, es klänge wie dieser Abend. Nach knapp einer halben Stunde hat Rieu siebenmal „herrlich“ gesagt. „Diese herrliche Musik.“ Er spricht gern von Heimat, Heimweh, Familie, Glück, Stolz. „Ich bin so verehrt, Strauß spielen zu dürfen.“ Mit seinem Deutsch braucht er sich hinter Rudi Carrell nicht zu verstecken.

Jingle Bells und die schöne blaue Donau („Der Walzer aller Walzer“), Händels ergreifendes Halleluja, Fledermaus, Johann Strauß. Das dominant graue Publikum, dazwischen durchaus Pärchen U 40, schunkelt innig und klatscht heftig mit. Der akkordcharmierende Rieu (55) hat eine liegende Dreifaltigkeit auf der Stirn. Seine Musikerinnen sind Engel aus dem Vorgestern, die Wangen aller Begleitmusikmänner glatt rasiert wie Schwiegersohnpopos. Nur der Kontrabassit, ein Latinotyp, lässt dreitagebebartet brummen.

Mutter Inge liebt Rieu seit jenem Abend in einem Hotelzimmer in Hamburg. Nach einem Besuch bei „Cats“ sah sie ihn im Fernsehen fideln und ist seitdem Fachfrau: „Das japanische Lied war am Donnerstag auch im ZDF. Das ist so schön.“ Aber sie ist eine durchaus kritische Begleiterin: „Der Rieu ist ja mittlerweile ein schwerreicher Mann, mehrfacher Millionär. Und ich hab gelesen, bei Eröffnungen nimmt der immer noch ’ne Extragage.“ In Krefeld spielte er seine Kaiserwalzer beim „Grand Opening“ des neuen „KönigPalasts“ zu Ticketpreisen bis 80 Euro. Das seitendünne Programmheft gab es schon für 10 Euro.

Eine halbe Stunde Weihnachtslieder. Mutter murrt: „Jetzt könnte er damit mal aufhören. Sonst hat er mehr schwungvolle Sachen gemacht.“ Aber sie hat auch Verständnis: „Es ist ja Adventszeit, mit Besinnung und so.“ Rieu moderiert manchmal länglich. „In den ersten Jahren hat er schlechter deutsch gesprochen. Jetzt quatscht er so viel. Aber das meiste ist ja ganz lustig.“ Zwischendurch durften wir alle ein Lied „als Krefelder Gurgelchor“ mitmachen. Auf jedem Platz stand ein Plastikbecherchen „prise d’eau“ von 0,125 Liter Inhalt. Das war die vorher so geheimnisvoll angekündigte „feuchte Überraschung“. Hoho.

Vom Wiener Maastricht-Orchester begleitet gibt eine Brasilianerin Carmen auf Französisch. Einzig dastehende Elementarkraft der Bögen. Streng klassisch alles, ohne Halbtöne, kantenfrei und gefällig, voll kraftvoll romantischer Schmalzbrotvitalität. Und immer schwungvoller. Vereinzelte Walzertänzer in den Gängen. Glück und pure Seinsseligkeiten. Der Teufelsgeiger ohne Teufelsquart ist jetzt in seiner himmlischen Hölle angekommen. Und 7.000 Glückliche sind ihm in Luzifers Reich gefolgt.

Dennoch: „Die ganz große Stimmung war ja nicht. Ich hab mal ein Konzert aus Italien gesehen, da haben sich die Italiener mit ihrem Temperament fast umgebracht vor Begeisterung“, sagt Mutter. Aber der Krefelder ist kein Italiener. Dafür hat er jetzt sein eigenes Projekt des Wahnsinns: So wie in den Sechzigerjahren jeder Kleinstadtvorort stolz auf sein eigenes Hallenbad war, wollen jetzt alle ihre eigene Multifunktionsarena. Krefelds zugiger und betonkalter „KönigPalast“, ohne Hinweisschilder und auffindbare Klos, wird einmal Architekturpreise für Unästhetik und Funktionalitätsfreiheit gewinnen. Mutter weiß: „Nein, schön ist es hier nicht.“

Draußen will die neblig-dustere Welt so hell erscheinen. Der Zaubergeiger hat die Sonne nachts aufgehen lassen und einen Neumond über dem niederrheinischen Plattland angeknipst. Non, rieu, rieu, je ne regrette rieu! Mutter sagt: „Ach, es war so schön.“ Hauptsache!

BERND MÜLLENDER