Das System hat versagt

Die dreigliedrige Schule missachtet die Individualität der Schüler. Stattdessen sollte sie zum Thinktank der Wissens- und Ideengesellschaft in Deutschland werden

Die deutsche Schule produziert Entfremdung. Lernen wird zum Mittel fürs bloße Überleben entwertet Wir brauchen eine große Bürgerinitiative, viele Menschen, die Zeit, Ideen und Geld investieren

Fritz läuft 100 Meter in 17 Sekunden. Wie lange braucht er für 1.000 Meter? Viele deutsche Schüler antworten: 170 Sekunden. Könnte es also sein, dass die deutschen Schulen eine Dienst-nach-Vorschrift-Haltung einüben?

Die Position der Deutschen in der Weltschulliga liegt wieder nur im Mittelfeld. Allerdings: Es gibt kleine Ausreißer. Ein Test galt der Kompetenz, Probleme zu lösen. Und siehe da: Darin sind die deutschen Schüler deutlich besser. Das gibt zu denken. Denn auch die Problemlöseaufgaben haben eine mathematische Struktur. Wie kommt es also, dass das explizite mathematische Wissen, das doch in der Schule geübt worden ist und tief verstanden sein sollte, den Schülern eher fremd bleibt – ihnen vielleicht sogar durch die Schule fremd geworden ist?

Alle Befunde der neuen Studie laufen auf dieses Generalergebnis hinaus: Die Wirksamkeit der deutschen Schulen ist gering. Das System reproduziert soziale Ungerechtigkeit stärker als in jedem vergleichbaren Land der Welt. Bei gleichen Testwerten hat in Deutschland ein Kind von Akademikern eine dreimal größere Chance, das Abitur zu machen, als ein Kind von Facharbeitern.

Viele dachten, das gegliederte deutsche Schulsystem, das für die Besten eine eigene Schulform hat, das Gymnasium, bringt eine starke Spitzengruppe hervor. Dass eine große „Risikogruppe“ abgehängt wird, wundert niemand. Aber auch die Spitzengruppe der deutschen Schüler ist im Vergleich zu der Gruppe der jeweils Besten aus anderen Ländern schwach. Doch von Japan bis USA, von Neuseeland bis Finnland gehen die Schüler bis zum 9. oder 10. Schuljahr in eine Gemeinschaftsschule. Dann erst trennen sich die Wege. Langsam wird der Verdacht zur Gewissheit. Die deutsche Schule produziert Entfremdung. Lernen wird häufig zum Mittel fürs bloße Überleben entwertet. Welche Noten brauche ich, um aufs Gymnasium zu kommen? Welche brauche ich, um auf dem Gymnasium zu bleiben? Dieser Druck wird vom typischen deutschen Unterricht unterstützt, in dem immer zwei Dinge stören: die intelligente Frage und der Fehler.

Beide sind ja so verwandt. Man kann nicht denken, ohne sich zu irren. Man kann nichts Neues herausfinden, ohne Fehler zu machen. Fehler zu verbieten läuft auf Denkverbot hinaus. Aber Fehlervermeidung ist das Charakteristische der deutschen Schulkultur.

Die Hauptschwäche unseres gegliederten Systems ist nicht so sehr die Unfähigkeit, Begabungen zu erkennen und zu fördern. Die Hauptschwäche ist auch nicht, die Kinder stärker nach ihrer sozialen Herkunft zu sortieren als nach Talenten. Die Hauptschwäche des deutschen Schulsystems ist, dass es die Schulen aus der Verantwortung entlässt, sich um schwierige Schüler zu kümmern. Kinder mit Lernschwierigkeiten werden zu schwierigen, störenden und schließlich gestörten Kindern gemacht. Das ist in dem Ausmaß beispiellos im Vergleich zu allen anderen von Pisa untersuchten Ländern.

In diesem deutschen System wird die Chance vertan, Kinder und Jugendliche in ihrer Individualität zu erkennen und anzuerkennen und ihnen die Möglichkeit zu geben, dabei etwas über ihr eigenes Lernen herauszufinden. Die frühe Einteilung der Schüler in höhere und nicht so hohe macht die Schule für viele zu einer angstbelasteten Veranstaltung. Diese Selektion vergiftet die Atmosphäre an deutschen Schulen, auch an den Gesamtschulen. Es klingt wie Hohn, wenn Schulforscher herausfinden, dass die Gesamtschulen mit ihrer internen Differenzierung in verschiedene Leistungsniveaus schärfer sortieren als das dreigliedrige System.

Daraus folgt, dass ein bloßer Umbau unseres Schulsystems zu Gesamtschulen allein nichts verbessern würde, wenn nicht zugleich diese deutsche Neigung zum Herabstufen und Herabsetzen endlich aufgegeben würde.

Nun argumentieren die einen, zwischen dem Pisa-Schock im Dezember 2001 und dem Test im Mai 2003 konnte sich doch gar nicht viel tun. Und es gäbe doch positive Anzeichen. Ergo, sagen sie, sind wir auf dem richtigen Weg. Das ist der Kammerton der Kultusministerkonferenz. Einige rot-grüne Politiker und die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft werden das Ende des Tabus verkünden. Sie stellen das selektive Schulsystem zur Debatte. Richtig und dennoch ein Dilemma. Denn eine Reaktion auf dieses Argument wird in Deutschland die Fixierung auf den Ländervergleich Pisa-E sein, der im Sommer 2005 kommt. Dabei werden vermutlich Baden-Württemberg und Bayern wieder besser als Bremen und Nordrhein-Westfalen abschneiden.

Das Problem: Überall, wo das Gymnasium das höchste Ziel ist, und mehr haben auch die Sozialdemokraten nicht zu bieten, wird die Verelendung der niederen Schülerkasten in Kauf genommen. Geht die Mehrheit der Kinder in höhere Schulen, wächst zugleich die Zahl derer, die bei nicht ganz glatten Leistungen das Urteil fürchten: Ihr seid die falschen Schüler auf der richtigen Schule. Der vermeintliche Erfolg, viele aufs Gymnasium gebracht zu haben, treibt die neurotisierende Seite unseres Systems noch weiter. Ich mache diesen Exkurs, um zu begründen, warum in den Südstaaten, wo das gegliederte System weniger stark zerklüftet ist und verteidigt wird, eher bessere Ergebnisse erwartet werden können. Aber wie soll die Öffentlichkeit diesen verwickelten Prozess verstehen? Wie bekommen wir endlich eine aufgeklärte und nicht mehr so ressentimentgeladene Debatte über die Schulen?

So verhängnisvoll unser selektives System ist, so fragwürdig ist es dennoch, die Kritik daran und dessen Abschaffung jetzt ganz oben auf die Tagesordnung zu setzen. Binnen kurzem wird nur noch die große Statik des Makrosystems in einer technischen Weise diskutiert. Andere Themen müssen die öffentliche Debatte anstacheln. Zum Beispiel die Frage: Warum gehen in Deutschland viele Kinder zur Schule wie zum Zahnarzt? Warum wollen bei uns viele Jugendliche, wenn sie die Schule verlassen haben, mit Mathematik oder Literatur nie wieder etwas zu tun haben? Warum sehen wir in Ausgaben für Bildung immer noch eher Kosten als Investitionen in unsere Zukunft? Warum sind Schulen nicht die schönsten Häuser? Warum sind nicht die Besten Lehrer? Wie kann es sein, dass die Intelligenz der Schüler steigt, die Schulleistungen sinken?

Dabei kommt man automatisch auf Fragen von Organisation und Struktur. Geht man diese direkt an, könnte hier in der bekannten Art des deutschen Bildungskrieges die Debatte enden, bevor sie richtig angefangen hat.

Wir brauchen ein großes Brainstorming über Lernen und Bildung. Schulen müssen sich die Freiheit nehmen, das zu machen, was sie für richtig halten und verantworten können. Wir brauchen eine große Bürgerinitiative, viele Menschen, die Zeit, Ideen und Geld investieren. Schulen müssen die Zukunftswerkstätten einer Wissens- oder Ideengesellschaft werden.

REINHARD KAHL