„Mein eigenes Begehren“

Formen sind nicht unschuldig: Der Spielfilm „Wild Side“ von Sébastien Lifshitz schildert die ménage à trois seiner Protagonisten als ein Mosaik. Ein Gespräch mit dem französischen Regisseur über Einsamkeit und Körper, deren Wahrheit stärker ist als Worte

VON KIRA TASZMAN

taz: Herr Lifshitz, ist der Titel des Films eine Anspielung auf Lou Reed?

Sébastien Lifshitz: Ja. Ich hatte anfänglich keinen Titel für den Film. Eines Abends stöberte ich in meinen Gedichtbänden und Platten und stieß dabei auf das Cover von „Take A Walk On The Wild Side“. Das hat mich angesprochen. Ich dachte an die Phase von Lou Reed, als er mehr oder weniger Transvestit war, wie David Bowie in seiner Glamrock-Phase. Auf einmal gab es Popstars, die keine Angst hatten, die Grenzen der männlichen Darstellung zu überschreiten, indem sie sich als Frauen verkleideten und schminkten, indem sie ihre Homosexualität offen legten. In dieser Offenbarung fand ich eine Parallele zu meinem Film.

Die Hauptfigur des Films, Stéphanie, ist transsexuell. Das scheint nur für ihre Mutter ein Problem darzustellen, die möchte, dass sie der Junge Pierre bleibt, der sie einst war.

Ja, für die Mutter ist Stéphanie immer noch ihr kleiner Junge. Sie handelt aber nicht aus Grausamkeit, sondern weil es für sie schwierig ist, dass ihr Sohn als Mann von ihr fortgeht und dann nach langer Abwesenheit als Frau wiederkommt. Ich wollte Stéphanies Außenseitertum aber auf keinen Fall zum Problem stilisieren. Weder die Homosexualität, die Transsexualität noch die Prostitution. Das ist nur eine Tatsache. Ich werte nicht.

Aber dass Stéphanie und ihre beiden Liebhaber, der Stricher Jamel und der russische Deserteur Michail, Außenseiter sind, ist doch kein Zufall.

Nein. Das sind drei Formen der Einsamkeit. Ich wollte Filmhelden aus diesen drei Menschen machen, die mit fast allem gebrochen haben. Ich wollte zeigen, wie sie eine Gemeinschaft bilden und es so schaffen, eine neue Hoffnung für sich aufzubauen. Heute, wo man vom Kino nur Unterhaltung oder Comedy verlangt, biete ich ein Gegenprogramm an und beschäftige mich mit Menschen, die abseits stehen.

Die Hoffnung für Ihre Figuren sehe ich aber nicht, vor allem nicht am Ende.

Für mich ist die Einstellung von dem schlafenden, einander umschlingenden Trio im Zug ein Zeichen von Hoffnung, obwohl man nicht weiß, was aus ihnen werden wird. Das Leben mag unsicher sein, vielleicht ist auch diese Dreierbeziehung unwahrscheinlich. Dennoch existiert sie und die Bande sind noch stärker als zu Beginn des Films.

Bei einer Dreierkonstellation ist aber meistens einer überflüssig.

Das ist eine Projektion von Ihnen.

Es gibt aber Indizien im Film, die auf Eskalation hindeuten. Die Traumata von Michail etwa. Einmal zwingt er Stéphanie, sich wieder als Mann anzuziehen, als ob er sie als Transsexuelle nicht akzeptieren würde.

Das sehe ich nicht so definitiv. Er ist verwirrt. Um Stéphanie zu verstehen, muss er an ihre Ursprünge zurück. Er macht das recht gewaltsam, denn er hat viel durchmachen müssen. Er ist eben nicht nur der nette Junge, der Traumprinz, sondern eine komplexe Figur. Daher verstehe ich seine Anwandlung. Stéphanie macht es aus Liebe für ihn, bestimmt nicht für sich selbst.

Sie gehen so nahe an die Körper der Figuren heran, dass die Distanz des Zuschauers schwindet. Was fasziniert Sie an – vor allem nackten – Körpern?

Am Kino mag ich, dass man nicht unbedingt Worte braucht, um etwas auszudrücken. Indem ich auf den Körpern verweile, erzähle ich eine Wahrheit über eine Figur, die für mich stärker ist als das Wort. Die Sprache offenbart für mich nicht unbedingt die Tiefe eines Menschen. Sie ist mir manchmal suspekt. So wie ich mich mit der Kamera auf den Körpern der Figuren bewege, bewege ich mich auch auf den Territorien, die diese durchqueren. Ich versuche, verschiedene Dinge mit denselben Mitteln zu erzählen. Geografische Räume oder die Räume des menschlichen Körpers sind für mich dasselbe. Der Körper ist auch ein Territorium. Dann gibt es natürlich noch die erotische Kraft eines Körpers, die auch eine Verbindung schafft, eine Chemie. Außerdem zeige ich so mein eigenes Begehren für die Schauspieler, zu dem ich mich voll und ganz bekenne. Ich hoffe, dass ich sie verliebt filme.

„Wild Side“ setzt sich aus Momentaufnahmen, Gefühlen, Landschaftsbildern zusammen. Filmen Sie diese Assoziationen, weil sich die Figur Stéphanie erinnert?

Ich fand es interessanter, den Film in Fragmenten zu erzählen, weil man die Geschichte so poetischer erzählen konnte. Das schafft überraschendere Übergänge von einer Szene zur nächsten. Eine chronologische Erzählweise hätte solche Assoziationen nicht ermöglicht. Ich wollte die Geschichte wie ein Mosaik aufbauen. Der Zuschauer muss einfach loslassen und sich auf das einstellen, was kommt.

Warum interessieren Sie sich mehr für Gefühle als für Psychologie?

Ich bin von Gefühlen fasziniert. Wie kann man sie im Kino ausdrücken? Jenseits des Wortes, in der Verbindung von einer Figur zur anderen. Oder von einer Landschaft zu einer Person. Denn eine Landschaft an sich existiert nicht, erst ein Blick macht sie zu einer Landschaft. Der Rahmen, den Sie in einen Raum setzen, bildet die Landschaft. Sonst hat man nur einen riesigen, unendlichen Raum.

„Wild Side“ merkt man einen Willen nach Schönheit und Form an.

Eine Form ist ja nicht unschuldig. In Frankreich will man derzeit im Kino die Realität durch realistische Bilder ausdrücken. Die Künstlichkeit oder verschobene Formen können im Kino aber viel treffender, kraftvoller und hypnotischer sein. Das unmittelbare Einfangen einer Realität, wo man sich auf Dialogszenen und die Sicht eines Autors verlässt, ist für mich schon lange überholt. Ich bevorzuge ein Kino, das sich nicht auf dieses festgefahrene Schema oder eine Fernsehästhetik verlässt. Das gilt für die Filme von David Lynch zum Beispiel, obwohl „Wild Side“ sonst nichts mit ihm zu tun hat. Ich finde es gut, wenn nicht alles sofort verständlich ist. Dann behält der Film ein gewisses Geheimnis.

„Wild Side“. Regie: Sébastien Lifshitz. Mit Stéphanie Michelini, Yasmine Belmadi u. a. Frankreich 2003, 94 Min.