Von Geschäfts- und Weihnachtsmännern

Ein Spaziergang durch New Yorker Kirchen, und die Konsumtempel gleich gegenüber, zur Adventszeit. In New York werden bis zu 20 Prozent des Jahresumsatzes in den vier Wochen vor Weihnachten gemacht. Xmas ist Christmas ohne Christus und ein Konsumfestival

VON TOBIAS MOORSTEDT

New York, im Dezember – der Weihnachtsmann hört Radio. „Hey, Leute, die Saison hat begonnen. Und es ist kalt“, sagt die Stimme aus dem Lautsprecher. Der Weihnachtsmann reibt sich die Hände, seit drei Stunden steht er an einer Straßenecke in Midtown Manhattan. Es ist der dritte Advent, der Countdown läuft. Auf einem kleinen Tisch steht das Radio und ein Schild „Be generous“, steht darauf. Der Weihnachtsmann klingelt sachte mit einer kleinen Glocke. Das Radio ist lauter, die Stimme sagt: „Raus mit euch. Shopping ohne Ende. Es bleibt nicht viel Zeit.“ Es folgt Rockmusik.

200 Meter weiter nördlich spielt eine Orgel. In der St.-Thomas-Kirche, an der 53. Straße, feiert man den Sonntagsgottesdienst. „Schütze uns vor allen Versuchungen“, beginnt der Priester die Fürbitten, „schütze uns vor dem Betrug der Welt, dem Fleisch und dem Teufel.“ Etwa zwanzig Leute antworten: „Wir bitten dich, erhöre uns.“

„Holiday season“ heißt in den USA die Zeit zwischen Thanksgiving und Weihnachten. „The season“, das ist vor allem die Hauptsaison des Groß- und Einzelhandels. In New York werden bis zu 20 Prozent des Jahresumsatzes in diesen vier Wochen gemacht. „The season“ ist aber auch ganz umfassend eine Grundeinstellung, die gute Laune und Großzügigkeit verbreiten soll: freundliche Verkäufer, gefüllte Bankkonten, viele Wünsche und Ladenöffnungszeiten von sechs Uhr bis Mitternacht. Xmas, so kürzt man Weihnachten ab. So heißt das Konsumfestival, auf das sich die multireligiöse US-Gesellschaft geeinigt hat. Der Weihnachtsmann und seine Rentiere ersetzen die heilige Familie als Sympathieträger. Xmas ist Christmas ohne Christus.

In New York sind die Straßen wie ein in Stein gemeißelter Kanal, die Masse der Menschen fließt hindurch. Erst wenn plötzlich eine Glocke läutet und man überrascht den Kopf hebt, sieht man den neugotisch gezackten Turm und erkennt in der glatten Kanalwand die St.-Thomas-Kirche. Tritt man ein, fühlt man sich, als sei man von einer tosenden Meeresoberfläche hinabgeglitten in ruhige Tiefen. Blaues Fensterglas taucht das 30 Meter hohe Hauptschiff in ein maritimes Licht. Wie ein Korallenriff schraubt sich der Sandstein-Hochaltar Richtung Decke. Eine Orgel spielt. Über dem Altar baumelt ein Adventskranz, im schummrigen Licht ist er kaum zu erkennen.

In den Geschäften ist der Weihnachtsgeist deutlicher zu sehen. Im Starbucks Café tragen die Angestellten Nikolausmützen und Heiligenscheine. Auf einer Tafel steht geschrieben, dass es jetzt wieder den beliebten Eierlikör- und Zimtkaffee gibt. Im Disney Store nebenan fallen Schneeflocken von der Decke, und Mickey liegt in einer Krippe, oder ist es ein Geschenkkarton?

Eingezwängt zwischen dem Armani- und dem Gucci-Laden an der fünften Avenue liegt die St.-Patrick-Kathedrale, die größte Kirche der Stadt. Im Vorraum stehen ein paar Dutzend Kaffeebecher, sechs Einkaufstüten und zwei Paar Ski. Die Messe läuft, die Bänke sind halb leer, die Weihnachtstouristen stehen hinter einer roten Absperrkordel, hier ist es eng. Fünf Saaldiener achten darauf, dass Gläubige und Konsumierende sauber getrennt bleiben. „Der Advent ist eine Bußzeit, um Bilanz zu ziehen“, belehrt einer der religiösen Security Guards einen hartnäckigen Touristen: „Früher wurde vier Wochen gefastet, ehe man Lebkuchen genießen durfte.“

Zwei Frauen verlassen die Kirche vor dem Segen. „Schauen wir lieber die Deko bei Sack’s an“, sagt die ältere Frau. Zur Adventszeit locken die großen New Yorker Kaufhäuser ihre Kunden mit aufwändigen Schaufensterinstallationen. Auch hier gibt es eine rote Absperrkordel, entzückt fotografieren Besucher die Elfenroboter, die Neonsterne und die modernen Engel; Plastikpuppen mit Dauerwelle und Minirock; trotzdem tragen sie Flügel.

Auf der anderen Straßenseite steht der Weihnachtsmann. In dem roten Kostüm steckt die 31-jährige Betty Sinclair. Sie schüttelt Kinderhände, lässt sich fotografieren. Im Hintergrund kann man den Christbaum am Rockefeller Center sehen, den blauweißroten Schmuck, eine Eiskunstlaufbahn und goldene Drahtengel mit Trompeten. „Silent night, holy night“ – der Verstärker ist voll aufgedreht.

Glaube und Geschäft, das muss in Amerika kein Widerspruch sein. So sieht zum Beispiel das neugotische Woolworth Building im Bankendistrikt nicht nur aus wie eine Kirche, sondern wird von den New Yorkern auch noch „Kommerzkathedrale“ genannt. „Im Innern sind Wolkenkratzer voller Geschäfte“, schrieb einmal der Architekt Rem Koolhaas, „nach außen aber wirken sie sehr spirituell.“