Augenblickchen bitte

Im März dieses Jahres verstarb der weitgehend unbekannte Lyriker Cid Corman. In seinem Nachlass: 80.000 unveröffentlichte Gedichte

VON VOLKER FRICK

Es hat Sinn, über Cid Corman zu schreiben, und auch nicht. Seine Gedichte sprechen für ihn. Er hat an die 150 Bücher – Gedichte, Übersetzungen, Essays – veröffentlicht, hunderte von Gedichten in hunderten von Zeitschriften publiziert. In Deutschland ist er nahezu unbekannt und in hiesigen Anthologien, Kompendien, Nachschlagewerken und Literaturlexika nicht verzeichnet.

Wenn ich mir vorstelle […], dass Cid Corman über tausende von unveröffentlichten Gedichten verfügt; oder dass sich seit Jahren kein Sponsor findet, der ihm und seiner Frau eine Reise nach Europa bezahlt – dann reagiere ich abwechselnd mit Schrecken oder mit dem belebenden Gefühl, dass es noch Dringendes und Schönes zu tun gibt.“ So der Verleger Rüdiger Fischer in einem Interview. 1998 entbot er eine erste minimalistische Auswahl von Gedichten von Cid Corman unter dem Titel „Wasserkraft“ in seinem Verlag am Wald dem deutschen Publikum.

In Roxbury, Massachusetts am 29. Juni 1924 als Sohn ukrainischer Juden geboren, startet Cid Corman, gerade mal Mitte zwanzig, in Boston eine Radiosendung, die sich zum ersten Mal überhaupt ausschließlich dem Sujet widmet, das im Titel dieser Radiosendung unzweifelhaft anklingt: „This is Poetry“. Die Sendung lief über drei Jahre einmal pro Woche, dauerte fünfzehn Minuten und war häufig zweisprachig.

Er macht das Publikum mit Lyrikern wie Archibald MacLeish, Stephen Spender und Theodore Roethke bekannt. Ein Hühnerzüchter in New Hampshire hört die Radiosendung und schreibt an Corman. Dieser wiederum stellt den Hühnerzüchter in einer der ersten Ausgaben seiner Zeitschrift Origin vor: Robert Creeley. Die dritte Ausgabe von Origin porträtiert Wallace Stevens und enthält den ersten ausführlichen Essay zu dessen Werk. Weit über dreißig Jahre lang schenkte diese Zeitschrift Autoren wie Denise Levertov, Robert Duncan, Louis Zukofsky, Larry Eigner, Charles Olson, George Oppen, Paul Blackburn, Philip Whalen, Lorine Niedecker oder Gary Snyder, um nur einige zu nennen, ihre Aufmerksamkeit.

In den Fünfzigerjahren ist er dank eines Fulbright-Stipendiums in Paris, wo er Gedichte von René Char und Francis Ponge, aber auch von Celan, allerdings ohne dessen Einwilligung, ins Englische übersetzt. Gleich in der ersten Woche in Paris lernt er den Künstler Sam Francis kennen, der ihm anbietet, sein Gesamtwerk zu veröffentlichen. Francis scheint letztlich nicht klar gewesen zu sein, was er da offerierte.

Nach seinem Frankreichaufenthalt geht Corman nach Italien, nach Matera, einer Bergarbeiterstadt, wo er etwas mehr als ein Jahr als Englischlehrer arbeitet und ihm genügend Zeit zum Schreiben bleibt. Nach seinen Jahren in Europa, die, wie er sagte, Stoff für fünf Romane bot, kommt er 1962 eher zufällig in Japan an. Im gleichen Jahr heiratet er, und gemeinsam mit seiner Frau Shizumi Konishi eröffnet er einen Coffeeshop in der Marutamachi Street in Kioto, den die beiden nach über zwanzig Jahren dann an Shizumis Bruder verkaufen. In diesen vierzig Jahren seit seiner Ankunft in Japan hat Cid Corman weiter Gedichte geschrieben und als Herausgeber, Übersetzer und Kritiker gearbeitet. Seine Übersetzungen japanischer Lyrik zeugen von einem Aus-erster-Hand-Wissen der japanischen Kultur und Sprache. Als Beispiele mögen Bashos „Back Roads To Far Towns“, Kusano Shimpeis „Frogs and Others“ und Santokas „Walking Into the Wind“ gelten.

Manchmal trug ihn die Struktur des Haiku; aber seine Gedichte, die, schon bevor er nach Japan kam, sehr kurze Gedichte waren, brechen mit den syntaktischen Regeln des Haiku, zumal er grundsätzlich an Regeln nicht interessiert war. Wenn er ein Gedicht begann, wusste er nie, was dabei herauskommen würde, und er wollte es auch gar nicht wissen. Er wollte aufzeigen, was die Worte sagen. Er schrieb nicht für sich selbst, eher für jedes menschliche Wesen. Er schrieb, um anderen das Leben vor Augen zu führen. Alles war für ihn Dichtung, und nichts bedurfte einer Erklärung, denn das Leben hat keine Bedeutung. War für ihn jeder Augenblick des Lebens Poesie, so gleichen seine Gedichte einem Atemzug. Und noch einem.

Als Cormans erste zwei Bände (von insgesamt fünf angekündigten Bänden à 750 Gedichten; Band 3 erschien 1998) 1992 erschienen, erfuhren diese nur geringe Beachtung der Kritiker. Im New Yorker Arts Magazine wurde Cid Corman als „the best kept secret in American poetry“ bezeichnet. Es erschienen Gedichtbände von ihm, auf denen sich nicht mal sein Name fand. Und mit „All in a Day’s Work“, der Titel deutet es an, veröffentlichte er ein Buch, das er an einem Tag geschrieben hatte.

An Larry Sawyer, den Herausgeber von Milk (milkmag.org), schrieb Cid Corman am 20. Dezember 2003 „Writing still a book of poems every day in effect. Tomorrow it will be 62 years since I began, also on a Sunday, and I’ve been at it every day since. Vacation is not a word in my vocabulary.“

Cid Corman erlitt Silvester 2003 einen Herzinfarkt, fiel in ein Koma, aus dem er nicht mehr erwachte, und starb am 12. März dieses Jahres in einem Krankenhaus in Kioto im Alter von 79 Jahren. Laut seinem Archivar Richard Aaron hinterlässt Cid Corman an die 80.000 unveröffentlichte Gedichte.

Nun ist eine zweisprachige Ausgabe seines Gedichtbandes „Sun Rock Man“ auf Deutsch erschienen, erneut im Verlag im Wald, wiederum übertragen von Rüdiger Fischer. Die Gedichte, die in diesem Band versammelt sind, schrieb Corman überwiegend während seines Lehrerdaseins in Matera, Hauptstadt der gleichnamigen süditalienischen Provinz mit an die 60.000 Einwohnern. Das auffallende Charakteristikum dieser Stadt, die oberhalb einer Schlucht entstand, sind die seit 1993 zum Weltkulturerbe der Unesco zählenden über 3.000 in den Kalktuff der Felsen geschlagenen antiken Behausungen.

Die Menschen trotzten dem Felsen eine Stadt ab. Kargheit und Entbehrung, Not und Mangel legt einem die Lektüre dieser Gedichte nahe. Doch Corman gelingt es, gleichsam als Seismograf mal rhapsodisch prosaisch, mal blitzartig bildhaft diese Stadt und ihre Bewohner als eine felsige Augenweide in ihrer harten Blöße nicht nur auf-, sondern auch nachzuzeichnen.

Die Sprache gliedert die Welt nach den materiellen Bedürfnissen der Menschen; vor allem aber ruft sie die Illusion hervor, es würde eine objektive Welt der Phänomene existieren. Dieser Mangel der Sprache erscheint nur in Relation zu einem Wissen, das noch in den Illusionen der Sprache befangen ist. Aussagen über die Wirklichkeit müssen an den nicht sagbaren Kern der Subjekte rückgebunden werden.

Er ist jedenfalls da raus / Nicht seine Sorge, / sondern ihre, anderer Leute. Genug / zum Leben in den eigenen Knochen. Und er kommt zurück, / arm vielleicht, aber mit der Rente, von der er träumte, / zu diesem Traum aus Nichts. Steht / oberhalb der Höhlen, wo die Grube war, / so sehr ein Gott, wie’s ein Gott nur sein kann, und sieht / Leute wie ihn, zwischen Sonnen und Bergen verloren, / die eigene Last hinauf- und hinunterschleppen. / Und er steht da entfremdet, befremdlich, sieht / steinerne Wasserfälle, die Fenster der Kindheit blind / gegen Rückkehr, wo noch Dunkelheit herrscht. / Hier wurde er geboren. Ein Schlussstrich gezogen. Der Weg nach oben / ist der Ausweg, sagte man ihm. Und oben / steht er nun, schaut hinab auf sein Heim.

Cid Corman: „Sun Rock Man/Sonne Fels Mensch“. Übersetzt von Rüdiger Fischer. Rimbach 2004, 232 Seiten, 12 Euro Cid Corman: „Pith Water/Eau-forte/Wasserkraft“. Übersetzung ins Französische von Laurent Grisel, Übersetzung ins Deutsche von Rüdiger Fischer. Rimbach 1998, 113 Seiten, 8 Euro Abdruck des Gedichtes aus „Sun Rock Man“ mit freundlicher Genehmigung von Rüdiger Fischer