Alt-Wiener Nostalgie

Wien lebt von seiner Vergangenheit, dem Klischee. Eine Ausstellung geht dem Mythos auf die Spur

Wien und Berlin, die Hauptstädte der beiden mitteleuropäischen Großmächte Österreich und Preußen, sahen sich im 18. Jahrhundert als Gegenpole. „Wir genießen das Vergnügen; sie schwatzen davon. Wir trinken Wein … Wir küssen den Busen, der uns gefällt; Sie machen Sinngedichte auf ihn … Welcher von beyden ist nun der Vernünftigere?“ So verteidigte Johann Friedel 1784 seine Heimatstadt gegen eine Reisebeschreibung des preußischen Aufklärers Friedrich Nicolai, der den „Eingebohrnen“ Wiens vorwarf, sie würden keine fremde Kritik ertragen.

Wien war damals mit 210.000 Einwohnern noch etwa doppelt so groß wie Berlin, und die Wiener wähnten sich im Zentrum der Zivilisation. Dieses alte Wien, das in den folgenden hundert Jahren sein Gesicht gründlich verändern sollte, ist aber nicht die Stadt, die von so vielen Dichtern verklärt besungen wurde. „Alt-Wien, die Stadt, die niemals war.“ Schon mit ihrem Titel deutet eine neue Ausstellung des Wien Museums an, dass sie einem Mythos auf der Spur ist. Wien lebt wie wenige Weltstädte von seiner Vergangenheit, die zum Klischee erstarrt ist.

Das alte, meist mit biedermeierlicher Lebensart assoziierte Wien endete spätestens im Jahre 1858, als der Abbruch der mittelalterlichen Basteien und Stadttore begann. Die Innenstadt und vor allem das Glacis, der ehemalige Verteidigungsgürtel außerhalb der Mauer, wurden für drei Jahrzehnte zur Großbaustelle.

Der radikale Umbau entsprang einerseits dem Modernisierungsgedanken, der großzügige Verkehrsadern und repräsentative Prachtbauten forderte, andererseits dem Gewinnstreben des Großbürgertums, das die gotischen Bürgerhäuser durch hoch rentable Zinshäuser ersetzte. Dass dabei nicht so radikal vorgegangen wurde wie im Paris des Präfekten Georges Eugène Haussmann, liegt nicht zuletzt daran, dass es in Wien kein Enteignungsgesetz gab und jede Schleifung mit dem Hauseigentümer mühsam und teuer verhandelt werden musste. So ist der mittelalterliche Grundriss weitgehend erhalten geblieben.

Die Nostalgie meldete sich aber schon um 1800 zu Wort, als die Fortschrittsideen Kaiser Josephs II. (1765–1790) ein hektisches Wachstum der Stadt ausgelöst hatten. Auch die Biedermeierzeit wirkt nur im verklärten Rückblick beschaulich. Sosehr politischer Konservativismus und Zensur den Stillstand suggerierten, war es doch eine Zeit der Beschleunigung des Stadtlebens und der unaufhaltsamen architektonischen Erneuerung. Die Wehmut über all die Häuser und Wohnviertel, die der unbarmherzigen Spitzhacke zum Opfer fielen, brachte den Topos Alt-Wien hervor. Symbolfigur dieser Stadt, die niemals war, wurde später der Komponist Franz Schubert (1797–1828), oder dessen verkitschtes Image als Liederfürst, dem in der Ausstellung ein ganzer Saal gewidmet ist.

Wie sehr das Bild von Alt-Wien schon vor über hundert Jahren gepflegt wurde, zeigt eine Ausstellung im Wiener Prater im Jahr 1892, für die das mittelalterliche Erscheinungsbild des Hohen Marktes, eines zentral gelegenen Platzes, rekonstruiert wurde. Das Konzept erwies sich als so erfolgreich, dass es ein Jahr später auf der Weltausstellung in Chicago wiederholt wurde. Die neue Ausstellung lässt den Hohen Markt im Maßstab 1 : 3 wiedererstehen. Die Künstler machten es sich zur Aufgabe, jedes Haus, jeden Platz, jede Kirche, die zum Verschwinden verdammt waren, zu malen oder später zu fotografieren, um sie für die Ewigkeit festzuhalten. Teile der Stadtmauer wurden ebenso im Museum eingelagert wie der Parkettboden einer der über zwei Dutzend Wohnungen, wo Beethoven einst Quartier aufgeschlagen hatte.

Neben der Unzahl von Bildern und Artefakten, die großteils aus den Depots des Museums geholt wurden und die Entstehung des Mythos von Alt-Wien und all seine Ausdrucksformen illustrieren und belegen, finden sich auch jede Menge Film- und Tondokumente. So wird einem Ausschnitt aus dem Kitsch-Schubertfilm „Das Dreimäderlhaus“ aus dem Jahr 1958 eine Szene aus dem TV-Film „Mit meinen heißen Tränen“ (1986) gegenübergestellt. Da irrt der Komponist durch ein tristes, von berittener Polizei überwachtes und verregnetes Wien, eine Stadt, wie sie wohl einmal war. RALF LEONHARD

Alt-Wien. Die Stadt, die niemals war. Künstlerhaus, Wien. 25. November 2004–28. März 2005, Dienstag–Sonntag 10–18 Uhr, Donnerstag bis 21 Uhr