Sturz in Abgründe

Verbrechen und Strafe: Willy Peter Reeses Kriegserinnerungen und Herma Kennels Tatsachenroman „Bergers Dorf“

von HERIBERT HOVEN

Zeit und Raum sind die Koordinaten unserer Erfahrung und des Erzählens sowieso, für manche freilich leicht verschoben oder reichlich knapp bemessen: Willy Peter Reese wurde am 22. Januar 1921 in Duisburg geboren. Sein Leben endete „zwischen dem 22. und dem 30. Juni 1944 im Raum Witebsk“, so das Gutachten des Roten Kreuzes. Was Reeses Schicksal nun von den vielen jungen, im Krieg gefallenen Soldaten unterscheidet, ist die Art, wie er seine Erlebnisse als Wehrmachtssoldat in Russland zu verarbeiten suchte.

Die Hinterlassenschaft des 23-Jährigen, erst 2002 durch eine Kusine an die Öffentlichkeit gelangt, besteht aus rund tausend Gedichten, einigen Erzählungen, Tagebüchern, zahllosen Briefen und einem Text, den Reese „Ein Bekenntnis aus dem großen Kriege“ untertitelt hat und der nun unter dem Titel „ ,Mir selber seltsam fremd‘. Die Unmenschlichkeit des Krieges. Russland 1941–44“ erschienen ist. Das eigentlich An- und Aufregende daran sind die Anmerkungen des Herausgebers, des Stern-Journalisten Stefan Schmitz, die etwa ein Drittel des Buches ausmachen und ohne die es niemals hätte erscheinen dürfen. Schmitz rechtfertigt seine Herausgeberschaft, und er tut gut daran. Er versteht Reeses Text als Beitrag zur Diskussion um die Rolle der Wehrmacht im nationalsozialistischen Weltanschauungskrieg und als Mahnung an die Nachgeborenen. Tatsächlich begegnet uns hier ein Soldat, der Täter und Opfer zugleich ist, ein irritierend doppelgesichtiger Erzähler, sich „selber seltsam fremd“, dessen Eigenart uns Schmitz nun aus dem komplexen Entstehungszusammenhang erschließt.

Reese war ein Schreibwütiger, doch was wie die Flucht aus dem Alltag wirkt, war nichts anderes als die Vorarbeit für ein ambitioniertes künstlerisches Werk über den Krieg, das „nicht nur ziemlich unabhängig von der chronologischen Wirklichkeit [werden sollte], sondern auch das Wesentliche auswählt und dichter zusammenfügt.“ Ein bemüht hoher Ton, an Rilke und Jünger geschult, deren Werke sich Reese an die Ostfront schicken lässt, durchzieht denn auch vor allem den ersten Teil der Aufzeichnungen, die im Februar 1944 während eines Heimaturlaubs entstanden. „Im Widerspruch mussten wir reifen, im Feindlichen bestehen und das Unsere bewahren im Kampf“, lautet die Überlebensstrategie des jungen Dichters, der gleichwohl seine Gegnerschaft zur Nazi-Ideologie offen kundtut.

Was als Weg nach innen geplant war, wird rasch zu einem Sturz in Abgründe. Fotografisch präzise hält der Schreiber die Bilder des Schreckens fest, den er und seine Kumpane verbreiten. Keine Stilisierung kann die Schuld überdecken. An Reeses Hinterlassenschaft erstaunt der Grad an Bewusstheit, trotz einer grundsätzlich pazifistischen Einstellung an einem Verbrechen teilgenommen zu haben: „Die Juden ermordet, / als brüllende Horde / nach Russland marschiert, / die Menschen geknebelt, / im Blute gesäbelt, / vom Clowne geführt“, heißt es in einem Gedicht aus dem Jahre 1942. Reeses „Bekenntnis“ ist das Zeugnis eines Selbstverlustes. Mitleid jedoch wäre verfehlt, weil sich das Eingeständnis der Barbarei als Schicksalsergebenheit drapiert.

Einem solchen Geschichtsfatalismus tritt Herma Kennel entgegen. 1944 bei Pirmasens geboren und als Jugendbuchautorin bekannt, will sie historische Abläufe verstehbar machen und Verantwortung für Verheerungen benennen. Im Abstand von einem halben Jahrhundert hat Herma Kennel das Schicksal ihrer Schwiegereltern und damit das Alltagsleben von Deutschen und Tschechen zur Nazizeit recherchiert. So ist ein dokumentarischer Roman entstanden, der auf Interviews mit Zeitzeugen, intensiver Archivarbeit und vor allem der Auswertung der örtlichen Zeitung Mährischer Grenzbote beruht. Zeitlich begrenzt zwischen dem 15. März 1939, dem Tag, als Hitlers Wehrmacht in die so genannte Rest-Tschechei einmarschiert, und dem 17. Mai 1945, sowie örtlich auf den Flecken Bergersdorf im Landkreis Iglau, einer deutschen Sprachinsel im Mährischen, zeigt die Autorin, wie das Leben einer bäuerlichen Gemeinschaft immer mehr von der ihr eigentlich wesensfremden Ideologie des Nationalismus erfasst wird. Ins Räderwerk der Geschichte gerät das Dorf, als es vom Leiter des SS-Hauptamtes in Berlin, Gottlob Berger, besucht wird, der es wegen der Namensähnlichkeit zum SS-Dorf erklärt. Die Einwohner, die bisher der NS-Propaganda eher reserviert gegenüberstanden, versprechen sich von der Marotte des Generals zu Recht einige Vorteile, ohne zu ahnen, dass dieser Opportunismus das Ende ihrer Gemeinschaft herbeiführen wird. Kurz vor seinem gewaltsamen Tod im Zuge der Nachkriegsereignisse erkennt der Bürgermeister seine Blindheit: „Wir wollten uns von den Tschechen befreien und sind Hitler in die Hände gefallen.“

Willy Peter Reese: „ ,Mir selber seltsam fremd‘. Die Unmenschlichkeit des Krieges. Russland 1941–44“. Hrsg. v. Stefan Schmitz; Claassen Verlag, München 2003; 284 Seiten, 21 Euro Herma Kennel: „Bergers Dorf. Ein Tatsachenroman“. Vitalis Verlag, Prag u. Furth im Wald 2003; 352 Seiten, 19 Euro 90