Die Kleinen und die Meerjungfrau

Bühnenzauber, tolle Helden, Mitklatschlieder, Happy-End: Im normalen Spielplan ist all dies tabuisiert. Aber beim obligatorischen Weihnachtsmärchen! Da muss auch an reflektierten Theatern was Schönes zum Staunen her. Schließlich will das kritische Kinderpublikum zur Unterhaltung verführt werden

Am Ende – das ist ein ehernes Gesetz – wird Freundschaftals Allesüberwinderemphatisch gefeiert

VON TILL BRIEGLEB

„Krieg dem Weihnachtsmärchen!“, lautete Anfang der Neunziger die Parole, mit der Jürgen Zielinski das Jugendtheater auf Kampnagel (JAK) gründete. Entgegen der Praxis der Stadttheater, zum Christfest lyrische Kindlichkeiten auf ihre Bühnen zu stellen, entwickelte der Regisseur und Intendant in Hamburg ab 1991 ein Aufsehen erregendes Repertoire realistisch inszenierter Jugendstücke. Zwischen dem pädagogischen Linkskitsch der Pioniere aus „Rote Rübe“-Zeiten und der hundertsten Ausstattungsschlacht mit „Aschenputtel“ schlug sich Zielinski für ein Gegenwartskonzept, das Jugend über Gewalt-, Angst- und Sehnsuchtserfahrungen darstellte.

Heute ist Zielinski Intendant am Leipziger Theater der Jungen Welt, einem der größten Kinder- und Jugendtheater Deutschlands, und hat neben Stücken über Selbstverletzung, Mobbing und den Islam mit dem DDR-Nostalgiker „Das singende klingende Bäumchen“ auch ein Weihnachtsmärchen im Repertoire. Denn es gibt Traditionen, die werden durch Anfeindungen nur stärker. Und wenn man sein Publikum ernst nimmt, dann merkt der Klügere schnell, wo Erziehung sinnlos ist. Zur stimmungsvollen Zeit gehört eben neben Mediamarkt und streitenden Eltern auch die Lust auf Andersen, Grimm und Waechter.

Und diese Theatervormittage sind schon etwas Besonderes. Lauter als auf einem Möwenfelsen ist es im Foyer des Bochumer Schauspielhauses, wenn lange Schlangen Händchen haltender Grundschüler auflaufen. Viele von ihnen haben E. T. A. Hoffmanns „Nussknacker“, den sie gleich sehen werden, bereits in der Schule gelesen oder sogar gespielt, und das führt dann dazu, dass 800 Kinderstimmen die Versuche der Schauspieler, etwas Spannung aufzubauen, mit kollektiven Regieanweisungen niederbrüllen. „Du musst den Simurg rufen“, skandieren sie, während der Nussknacker noch den Verzweifelten mimt.

Obwohl die 6- bis 10-Jährigen noch nie auf einem Rockkonzert waren, benehmen sie sich so. Tolle Bühneneffekte – mit denen Annette Raffalts Inszenierung in guter Stadttheater-Tradition gespickt ist – werden bejubelt wie Lieblingssongs, am Ende brüllt der Saal „Zugabe“ und die Identifikation im Gut-Böse-Schema funktioniert so reibungslos, dass der Mäusekönig beim Schlussapplaus ausgebuht wird. Herrlich.

Sind diese Altersgruppen noch eine leichte Beute für tolle Kostüme, Drehbühnen und soulige Meerjungfrauen, so hat die Älteren die Welt der Special Effects total versaut. Theater gilt als „alt“ und „uncool“ und die nölenden Beschwerden, warum man sich denn so einen Kinderkram wie „Jim Knopf“ ansehen muss, begleiten die Erzieher bis in den Saal. Für diese Präpubertierenden ist der warnende Handysound, der das Publikum daran erinnern soll, die Eierwärmer abzustellen, wirklich nötig, denn trotz bereits eindringlicher Ermahnungen vor dem Theater, dass jeder Jamba-Klingelton Konsequenzen hat, glühen in den Reihen die Displays.

Und trotzdem lässt dieses kritische Publikum sich von der Inszenierung Florian Fiedlers am Hamburger Schauspielhaus dazu verführen, unterhalten zu sein. Ein dreigeschossiges Lummerland mit echter Lokomotive eröffnet eine Reihe von theatereigenen Special Effects, die spontane Zustimmung laut werden lassen. Die Schauspieler können zwar weder „Schwarzer Skelettdrache“-Attacke ausspielen noch Schadenspunkte zufügen, besitzen dafür aber Charisma. Und am Ende haben sich die Kleinen vor Frau Mahlzahn gefürchtet und die Größeren geben gönnerhaft zu, dass das „ganz okay“ gewesen ist.

Im Grunde genommen sind Kinder nämlich ein extrem dankbares Publikum, weil sie all das beklatschen, was der Zeitgeschmack tabuisiert hat, Theaterleuten aber immer noch großen Spaß macht: Bühnenzauber, Rampengesaue, kitschige Gefühle, tolle Helden, Mitklatschlieder und Happy-End. Nervende Reflexion und unentschiedene Charaktere, die zwar pädagogisch wertvoll, aber anstrengend sind, versauern zu Weihnachten im Theaterverlag. Was Schönes zum Staunen muss her. Und am Ende – das ist ein ehernes Gesetz – wird Freundschaft als der Allesüberwinder emphatisch gefeiert.

Kritik an sozialen Missständen findet nicht mal mehr dort Einlass, wo er Sinn machen würde. Etwa bei Mark Twains „Tom Sawyer“, das am Hamburger Thalia-Theater in der Inszenierung von Henning Bock als wunderschön bebildertes Mississippi-Märchen mit Country-Rock-Band erzählt wird. Das braucht echte Schurken, sympathische Jungs, knusprige Mädchen und arme Unschuldige, die in illusionistischen Kulissen mit hohem Pop-Faktor nach den Regeln der Filmdramaturgie immer Action haben.

Obwohl das klassische Weihnachtsmärchen gerade in der Provinz immer noch die Spielpläne dominiert, scheuen manche Theater auch das Risiko von Uraufführungen nicht. Natürlich abgemildert durch den großen Erfolg des Romans „Tintenherz“ von Cornelia Funke hat sich etwa der langjährige Leiter des Bremer Jugendtheaters MOKS, Klaus Schumacher, am Schauspielhaus Hannover mit dem düsteren Zauberbuch beschäftigt und eine opulente Abenteuerfahrt daraus entwickelt. Mit dem selbstbewussten Kind im Zentrum – wie sich das heute gehört –, hält Schumacher eine gute Balance zwischen lustig und unheimlich, pompös und klar.

Dieses hohe unterhaltende Niveau, das die wenigen Stichproben in der Vorweihnachtszeit allesamt besitzen, erklärt vielleicht auch, warum das Kinder- und Jugendtheater die deutlichsten Zuwachsraten aller Bühnen aufweist. Acht Prozent Zuschauerwachstum im letzten Jahr sind vor allem auf die immer kompakteren Dezemberspielpläne zurückzuführen. Zwar erwirtschaften die Märchen kaum Gewinn. In Bochum etwa kostet die Kinderkarte mit vier Euro ein Fünftel des Normalpreises. Aber dem Theater ist die Auslastung was dem Fernsehen die Quote, und die zieht gegen Jahresende durch die laufenden Meter rasant an. 15.000 Kinder sehen beispielsweise den Nussknacker im Dezember in Bochum.

Wenn dagegen ein großes Kinder- und Jugendtheater wie das Theater der Jungen Welt in Leipzig mit circa 45.000 Zuschauern bereits eine der erfolgreichsten Jugendbühnen überhaupt ist, zeigt sich ein strukturelles Problem, das die Erfolgsstatistik verdeckt: In der jugendkulturellen Grundversorgung steckt der Wurm.

Henning Fangauf von Frankfurter Zentrum für Kinder- und Jugendtheater sagt zwar ehrlich, dass im internationalen Vergleich in Deutschland „paradiesische Zustände“ herrschen, aber es ist ein Paradies mit faulenden Rändern. Überall werden die Gastspieletats gekürzt, sodass die knapp 80 reisenden Kinderbühnen Deutschlands in ihrer Existenz bedroht sind. Neben dem Tanztheater ist die Jugendsparte immer die erste, die von Kommunalpolitikern als verzichtbar erklärt wird. Und absurderweise bedroht die Pisa-Studie die Bühnen, denn, so Fangauf: „Immer mehr ehrgeizige Mütter sind der Meinung, dass ihr Kind im Theater nichts lernt. Sie verlangen die Konzentration auf Schlüsselqualitäten und diesem Legitimationsdruck sind viele Lehrer nicht gewachsen.“

Zwei neue Funktürme senden aber auch frohere Signale. Die Neugründung des Jungen Ensembles in Stuttgart letztes Jahr war eine der seltenen ambitionierten Akzente in diesem Bereich und der zukünftige Intendant des Hamburger Schauspielhauses, Friedrich Schirmer, wird den Malersaal für ein Kinder- und Jugendtheater unter der künstlerischen Leitung von Klaus Schumacher zur Verfügung stellen – ohne extra Zuschüsse allerdings ein Abenteuer für echte Nussknacker, die leider nicht den Simurg rufen können. Es wird also spannend. Aber so soll es ja auch sein.