Haitis Herr vor dem Ende?

aus Santo Domingo HANS-ULRICH DILLMANN

Gonaïves ist ein Symbol: In der Hafenstadt wurde am 1. Januar 1804 die Unabhängigkeit Haitis verkündet. Die schwarze Bevölkerungsmehrheit aus ehemaligen afrikanischen Sklaven hatte die französischen Kolonialherren erfolgreich in die Flucht geschlagen. Hier, knapp 160 Kilometer von der Hauptstadt Port-au-Prince entfernt, will am Donnerstag Staatspräsident Jean-Bertrand Aristide die Geburtsstunde der ersten freien Republik auf dem lateinamerikanischen Kontinent feiern. Als einer der wenigen Staatsoberhäupter aus dem Ausland hat der südafrikanische Staatspräsident Thabo Mbeki seine Teilnahme angekündigt. Ob Aristide jedoch am 1. Januar wirklich die Tribüne auf dem Place d’Armes im Stadtzentrum betreten wird, ist fraglich. Zwei Tage vor Heiligabend stürmten bewaffnete Mitglieder der „Widerstandsfront Anti-Aristide“ den Platz und zerstörten die unter Polizeischutz aufgebauten Tribünen. Die Widerstandsfront hat jedenfalls angekündigt, sie werde verhindern, dass Aristide zur Unabhängigkeitsfeier einen Fuß in die Hafenstadt setzt.

Zweihundert Jahre nach der Sklavenrebellion demonstrieren in den Straßen der Hauptstadt Port-au-Prince fast täglich Studenten. Die Forderung nach einer Bildungsreform hat längst die Parole „Aristide muss weg“ abgelöst. Eine Koalition aus 184 Nichtregierungsorganisationen fordert seinen Rücktritt. Menschenrechtsorganisationen klagen öffentlich extralegale Hinrichtungen von Oppositionellen an.

Vor zwölf Jahren war Jean-Bertrand Aristide noch der Hoffnungsträger des Landes. Lavalas nannte er seine Partei, in Kreol bedeutet dies „Erdrutsch“ oder „Lawine“. Mit seiner Losung „Frieden im Geist und im Magen“ überzeugte er vor allem die Besitzlosen in den Bidonvilles, den Armenvierteln der Städte, und auf dem Land, die ihren Hunger stillen und – ein weiteres Versprechen – „in Würde“ leben wollten.

Der Anhänger der Befreiungstheologie verbuchte mit zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen in dem Acht-Millionen-Einwohner-Land einen wahren Erdrutschsieg. Neun Monate später war „Titid“, der kleine Aristide, wie er von seinen Anhängern liebevoll genannt wird, aus dem Amt geputscht. Als der ehemalige Salesianerpriester drei Jahre später aus dem Exil mit ausländischer Truppenunterstützung zurückkehrte, agierte er nach der Devise: Wer nicht für mich ist, ist gegen mich. Kritiker erlebten die geballte Wut der „Schimären“ genannten militanten Aristide-Anhänger, zahlreiche Oppositionelle wurden ermordet. Die Liste der Anschuldigen gegen Staatspräsident Aristide ist noch länger: Das Land sei Dreh- und Angelpunkt des internationalen Drogenhandels, die Korruption innerhalb der Verwaltung offensichtlich und internationale Hilfsgelder seien in private Taschen geflossen.

Während sich Aristide, wie seine Kritiker behaupten, längst zum reichsten Mann des Landes gemausert habe, sucht der ehemalige Armenpriester die Schuldigen der wirtschaftlichen Misere in ausländischen Mächten. „Ihr habt die gleiche Hauptfarbe, die gleichen kleinkrausen Haare wie ich“, rief „Titid“ vor einem Jahr Bauern im Norden des Landes zu, „wenn sie den Willen des Volkes nicht akzeptieren, dann hat das damit zu tun, dass sie viele Vorurteile gegen euch haben. Es gibt kein Komplott gegen den Präsidenten Aristide, sondern gegen das haitianische Volk, das sie nicht mögen.“

Von der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich hat Aristide vor drei Monaten Wiedergutmachung gefordert. Die Unabhängigkeit vor 200 Jahren musste sich die junge Nation nämlich teuer erkaufen (siehe Chronik). Die Opposition sieht in der medienwirksam vorgetragenen Forderung lediglich ein Ablenkungsmanöver von der wirtschaftlichen Situation und den Protesten. Die Preise für Grundnahrungsmittel haben sich zum Teil verdreifacht. Das durchschnittliche Monatseinkommen eines Haitianers beträgt nur rund 20 Euro. Fast 70 Prozent der Bevölkerung ist arbeitslos. Ohne die jährlichen Überweisungen der etwa 1,5 Millionen im Ausland lebenden Haitianer in Höhe von rund 600 Millionen US-Dollar könnten im Armenhaus Lateinamerikas die Menschen nicht mehr überleben.

Die Staatskasse ist leer. Das Land ist dringend auf internationale Hilfsgelder und Kredite der Weltbank angewiesen, um Reformen zu finanzieren. Aber die Gelder, rund 500 Millionen US-Dollar sowie mehrere hundert Millionen Euro aus der Europäischen Gemeinschaft, sind seit den Präsidentschaftswahlen im November 2000, bei denen Aristide zum zweiten Mal kandidierte, eingefroren. Die Opposition boykottierte den von Manipulationsvorwürfen begleiteten Urnengang.

Staatspräsident Jean-Bertrand Aristide befindet sich in einer Zwickmühle. Seine Schimären würden seinen Sturz vermutlich mit einer Welle von militanten Demonstrationen beantworten. Ohne seinen Rücktritt wird die Opposition jedoch keinen Vorschlag zur Bewältigung der politischen Krise akzeptieren. Politische Kommentatoren fühlen sich inzwischen an das Jahr 1986 erinnert. Damals starben bei Protesten in Gonaïves zwei Studenten. Kurze Zeit später floh Diktator „Baby Doc“ Richtung Frankreich.